The Hateful Eight in der 70mm-Roadshow-Fassung
03.03.2016
· Feuilleton
· 6 min
Das Summen von hunderten Gesprächen erfüllt den Kinosaal, während ich auf dem roten Samtsessel Platz nehme. Der Stuhl macht ein quietschendes Geräusch, wenn man seine Sitzfläche ausklappt. Manch einer hat seine Cola oder sein Bier in der Glasflasche, oder seinen Wein in den an der (ebenfalls klappbaren) Armlehne angebrachten Metallhalter gestellt. Kein Plastik; auch keine Musik – nur gespanntes Warten auf den Film.
Um kurz nach Acht wird der Saal verdunkelt. Nur die wenige Scheinwerfer, die den roten Vorhang beleuchten, warten noch einige Sekunden, bis sie ihren Ausschaltvorgang abschließen. Es wird still im Kinosaal.
Auf einmal durchdringt der dunkle Klang eines Cellos den Saal und die Streicher spielen eine Ouvertüre. Bedrohlich, bei geschlossenem Vorhang und erlöschendem Licht baut der Film seine Atmosphäre auf. Drei Minuten später öffnet sich der Vorhang, und ohne Umschweife beginnt der Film mit Vorspann und, Tarantino-typisch, mit „Chapter One: Last Stage to Red Rock“.
Am 13. März ist es wieder so weit: Es steht eine Wahl an. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und ein drittes Bundesland, das irgendwie selbst vom Heute-Journal mehr oder weniger ignoriert wird, wählen einen neuen Landtag. Es wird spannend! Diese Wahl ist nach Kommunal- und Europaparlamentswahl die erste Wahl für mich seit etwa zwei Jahren. Und eine ungleich schwerere: Von Europa- und insbesondere Bundespolitik bekommt man als halbwegs interessierter Mensch ja noch viel mit, auf kommunaler Ebene kennt man vielleicht noch einen Teil der Kandidaten. Eine Entscheidung in Sachen Landespolitik jedoch finde ich, zumal ich seit der letzten Wahl das Bundesland gewechselt habe, kompliziert.
Wen wählen?
Ich für meinen Teil habe nur eine recht grobe Vorstellung davon, was die Kompetenzen auf Landesebene überhaupt sind, wofür die Parteien auf Landesebene und die Direktkandidaten auf Ebene meines Wahlkreises überhaupt stehen.
Für mich ein weiteres Entscheidungs-Hemmnis ist das Wahlsystem: Hat man bei der Bundestagswahl zwei Stimmen (eine für einen Direktkandidaten, eine für eine Partei), die man unabhängig voneinander vergeben kann, hat man (zumindest in Baden-Württemberg) nur eine Stimme, mit der man beides gleichzeitig wählt. Bei der letzten Bundestagswahl basierte meine Wahl aber genau auf diesem Stimm-Splitting: Ich habe einen Direktkandidaten gewählt, den ich für sinnvoll hielt, aber gleichzeitig meine Zweitstimme einer ganz anderen Partei gegeben, mit deren Parteiprogramm ich mich mehr identifizieren konnte.
Doch diese Möglichkeit hat man bei der Landtagswahl jetzt nicht. Verschwendet man nicht seine komplette Stimme, wenn man eine Partei wählt, die am Ende nicht in den Landtag einzieht? Und wirkt sich das nicht genauso indirekt positiv auf die Ergebnisse radikaler Parteien wie der AfD aus, als würde man gar nicht wählen gehen?
Eine Wahl verpflichtet zu voriger, sinnvoller Meinungsbildung – aber welcher normale Mensch hat schon Zeit, sich von allen (wichtigen) Parteien die fast 80-seitigen Wahlprogramme durchzulesen? Wie gesagt, die Nachrichten, die man als vernünftiger Bürger vielleicht regelmäßig guckt, geben auch nicht viel Information und Aufschluss zu individuellen Landesthemen. Man könnte sich natürlich näher mit der Wahlwerbung beschäftigen – doch auch dort eröffnet sich ein Abgrund, den ich im Folgenden näher beobachten will.
Ich gehe die Treppe herunter. Ein dunkler Hut kommt mir entgegen. „Morgen“, sagt der Hut. „Morgen“, sage ich. Ich krame in meiner Tasche nach einem Schirm. Plötzlich wippt ein blonder Haarschopf vorbei. „Morgen“, rufe ich dem Haarschopf hinterher. Der Haarschopf wippt unbeirrt weiter.
„WWP!“, macht meine Hosentasche. „Morgen“, sage ich ihr, und stelle sie stumm. Regen tropft von meinem Schirm auf die nasse Straße. Eine dunkelhaarige Frau lehnt an der Laterne und blickt mich stumm, aber freundlich lächelnd an. „Morgen“, sage ich der Frau. Die Frau blickt mir stumm hinterher. Ich drehe mich langsam zu ihr um. „Willst du mir nicht irgendwas sagen?“, frage ich die Frau. Sie bleibt stumm.
Nicht jedoch der kleine Mann im grauen Anzug mit der blauen Krawatte, der eine Laterne weiter steht. Er scheint fast ein bisschen zu hüpfen, während er mit einer kleinen Spielzeugschranke wedelt und ohne die übliche Begrüßung laut skandiert: „Asylchaos stoppen! Asylchaos stoppen!“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, erwidere ein sehr sachliches „Morgen“, und gehe weiter. Manchmal wünsche ich mir dann doch, dass alle Menschen so still sind, wie die dunkelhaarige Dame von eben.
An der Ecke lehnt eine blonde Frau, deren stummer Blick starr durch die vorbeihuschenden Mäntel hindurchschaut, trotz seiner Unfokussiertheit doch nicht abwesend wirkend. Ich betrachte sie näher. Sie würdigt mich mit keiner Erklärung ihrer Anwesenheit. „Na immerhin an der Haarfarbe kann man sie unterscheiden“, denke ich und gehe weiter.
Ich betrete einen grauen Tunnel voller hektischer Beine. Abfahrt 7:27 Uhr, Gleis 8. Bis dahin? Warten und Raten. Welcher Prominente ist hier abgebildet? Puzzlestück um Puzzlestück fällt und entblößt die Wahrheit. „Morgen“, nicke ich dem Monitor zu, den sonst niemand beachtet.
Stotternd setzt sich die Bahn in Bewegung. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts; Ausstieg in Fahrtrichtung rechts, Ausstieg in Fahrtrichtung links. Die einsame Sitzbank hinter mir redet mit sich selbst. Ich wüsste gerne, was sie denkt, aber höre nur unverständliches, gemischt mit Fluchen und dem Geruch von Alkohol. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Die Stimme torkelt aus der Tür. Warum müssen eigentlich immer die verrückten Leute Bahn fahren? Ein Piepen schließt die Tür. Die Bahn fährt wieder los; ich in ihr. Nächster Halt in Fahrtrichtung rechts. Mein Ausstieg.
Am Bahnsteig steht ein Wagen mit verschiedenen Schriftstücken einer Glaubensgemeinschaft. Ein Leben voller Glück – Wie ist das möglich? Die Zukunft – Wie sieht sie aus? Höre auf, Gott! Ich grüße den Wagen lieber nicht; nachher will mich Gott in ein Gespräch verwickeln, und dafür habe ich keine Zeit.
Schließlich habe ich zu tun. Schiebetür, Sicherheitsschleuse, Aufzug, Kaffeevollautomat, Treppe, Tür, Großraumbüro. „Morgen“, sage ich zu dem Lichtschalter, mit dem ich den verlassenen Raum illuminiere. Laptop aufklappen. Unten rechts, eine Erinnerung. Mail an bla verfassen.
Oft sind es die kleinen Fragen des Lebens, die eigentlich sehr spannend sind und leicht zu beantworten wären, nur nie beantwortet werden, weil man zu faul ist, die Antwort experimentell zu bestätigen. Oft genug wird man auch von dem alten Satz aus frühester Kindheit behindert: „Mit Essen spielt man nicht!“ Doch das soll heute nicht so sein.
Wer kennt das nicht: Man will gerne noch schnell eine Tasse Tee trinken, ist aber so sehr in Eile, dass man kein Zeit hat, Wasser aufzusetzen, zum Kochen zu bringen und dann den Teebeutel 5-10 Minuten ziehen zu lassen. Gäbe es nur eine Möglichkeit, das geliebte Heißgetränk signifikant schneller zu produzieren…
…denkt sich der gehetzte Student, als sein Blick auf die Senseo-Pad-Kaffeemaschine fällt – die Wasser kocht, direkt danach durch eine Kammer presst, in der, in einem teebeutelartigen Behältnis, zermahlene Pflanzen aus fremden Kulturen gelegt wurden, und so ein ebenfalls leckeres Heißgetränk zu produzieren. „Aha“, denkt sich der Student, und beginnt mit der Versuchsvorbereitung.
Ein Versuch, Alligatoah zu verstehen – von jemandem, der eigentlich keine Ahnung hat
04.01.2016
· Feuilleton
· 4 min
„Lasst mich euch berichten, von einem jungen Mann, seiner goldnen Ära (und seinem Untergang)…“, beginnt der Künstler sein (zugegebenermaßen altes) Album, Triebwerke, mit dem er seinen Durchbruch hatte. „Alle seine Freunde sahn ihn als Genie.“ Und erst vor kurzem begann mit dem „Comeback des Jahres (Intro)“ sein neues Album: „Musik ist keine Lösung“.
Ich bin weiß Gott kein Experte für Musik oder gar Rap (oder ist das Hip-Hop? Wo ist da eigentlich der Unterschied?), doch ist Alligatoah bereits im letzten Jahr nicht an mir vorbeigegangen und nicht nur im Ohr hängen geblieben – auch wenn sich mein Musikgeschmack für gewöhnlich in ganz anderen Genres bewegt. Daher versuche ich im Folgenden herauszufinden, was Alligatoah irgendwie besonders macht und insbesondere auch, was ich von seinem neuen Album halte, dass ich im Zuge dieses Artikels zum ersten Mal in Gänze höre.