Neo-Biedermeier

Über geschichtliche Parallelen und unsere Gesellschaft

Bereits vor zwei Jahren habe ich gemeinsam mit Jana Willemsen den Begriff „Neo-Romantik“ als Bezeichnung für die aktuelle Literatur-Epoche diskutiert. Die These des Artikels damals: Die Literatur unserer Zeit ist letztendlich die Romantik – mit der bedeutenden Änderung der negativen Zukunftsaussicht: Utopie wurde durch Dystopie ersetzt. Dabei wurde insbesondere Jugendliteratur betrachtet, da „in einer alternden Gesellschaft, deren oberstes Ziel es ist, fit und jung zu bleiben, […] das Jugendbuch die wichtigste literarische Gattung [ist]“.1

Der im Folgenden vorgestellte Begriff Neo-Biedermeier soll unsere Zeit nun mit einer eher gesellschaftlichen Sicht eingrenzen und beschreiben. Zunächst muss jedoch der geschichtliche Kontext des klassischen Biedermeier dargelegt werden:

Der alte Biedermeier

Versetzen wir uns gemeinsam zurück in das frühe 19. Jahrhundert. Napoleon Bonaparte, „Kaiser der Franzosen“ ist gerade mit seinem Russlandfeldzug katastrophal gescheitert, die unterdrückten Mächte Russland, Preußen und Österreich verbünden sich in einer „Heiligen Allianz“ gegen die Hegemonialmacht Frankreichs und siegen, um 1814/15 auf dem Wiener Kongress die alte Ordnung in Europa wiederherzustellen.

Ziele der Restauration waren die Rückabwicklung der Folgen der französischen Revolution, die Sicherstellung der monarchischen Autorität der alten Dynastien und die Verhinderung von weiteren Revolutionen durch freiheitliche und nationale Bewegungen. Der Deutsche Bund unter preußischer und österreichischer Vorherrschaft wurde gegründet.

1819 verabschieden die wichtigsten Staaten des Deutschen Bundes aus Angst vor einer weiteren Revolution die Karlsbader Beschlüsse: Die Pressefreiheit wird eingeschränkt und durch Zensur ersetzt, Universitäten werden überwacht und Professoren mit liberalen oder nationalen Einstellungen durch Berufsverbote an der Vermittlung möglicherweise aufrührerischer Lehren gehindert.

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The Circle

George Orwells Alptraum

The Circle, beziehungsweise im Deutschen Der Circle ist ein 2013 erschienener, dystopischer Roman des amerikanischen Schriftstellers Dave Eggers. Inhaltliches Zentrum ist der titelgebende Internet-Konzern The Circle, der als Kombination von Google, Facebook und weiteren das Netz dominiert, umfassende Transparenz fordert und somit Privatsphäre immer weiter eliminiert.

Die Handlung folgt der Protagonistin Mae Holland, die eine Stelle im Bereich Customer Experience annimmt, im Laufe des Romans innerhalb des Unternehmens weiter aufsteigt und immer tiefer in die umfassende Transparenz hineingezogen wird. Sie wird mit starkem sozialen Druck dazu gezwungen, firmenintern und -extern im sozialen Netzwerk alles über sich selbst preiszugeben. Als Trendsetterin bei Produktumfragen teilzunehmen und ihrerseits wiederum Produkte an ihre Follower zu empfehlen. Alles ist mess- und vergleichbar, von der Zufriedenheit ihrer Kunden über Aktivität im sozialen Netzwerk bis hin zum Umsatz, den sie mit ihren Empfehlungen generiert hat.

Begleitet wird sie dabei von ihrer guten Freundin Annie, die ein relativ hohes Tier im Circle ist und ihr den Job ermöglicht hat. Sie lernt einen Kollegen Francis kennen, mit dem sich so eine Art Beziehung entwickelt, sowie den mysteriösen Kalden, zu dem sie sich hingezogen fühlt, der aber in den Such-Tools des Unternehmens nicht aufzufinden ist. Maes Vater leidet an multipler Sklerose, kann aber in Maes ausgezeichnete Krankenversicherung aufgenommen werden – wenn sie die neue Kameratechnologie „SeeChange“, kleine öffentlich ans Internet angebundene Überwachungskameras zur Verfolgung seines Gesundheitszustands überall im Haus installieren. Einzig Maes Exfreund Mercer ist die, durch den Circle getriebene, technologische Entwicklung weg von Privatsphäre zu immer mehr Transparenz zu viel.

Mae hingegen rutscht immer tiefer in die Denkstrukturen ihres Arbeitgebers hinein und wird irgendwann komplett gläsern, indem sie stets eine SeeChange-Kamera bei sich trägt und ihr komplettes Leben live an ihre wachsende Zuschauerzahl überträgt – durchaus als PR-Element des Circle. Auch Politiker geben sich zunehmend diesem Trend hin, denn: Transparenz ist ja gut, wir als Gesellschaft haben ein Recht darauf, zu wissen, was sie tun. Es ist besser für alle. Und so zieht sich die Handlung weiter, hin auf das Endziel: Die „Completion“ des Circles.

Ich hatte beim Lesen ein sehr unangenehmes Gefühl, das über die (vom Autor natürlich intentionierte) Ablehnung der vorgestellten Technologien hinausgeht. Irgendwas passt nicht, ist nicht stimmig, und ich stimme dem Inhalt nicht zu. Aber ich kann auch den Finger nicht genau drauflegen, was genau mich stört. So krass manche Sachen im Roman manchmal sind, so weit weg von der Realität ist das nicht. Einige der gerade am Anfang beschriebenen Praktiken sind durchaus Silicon-Valley-tauglich.

Was stört mich also? Meine erste These war tatsächlich: Meine unergründbare Ablehnung sagt mir, das stimmt, was gesagt wird, ich dem aber unbewusst nicht zustimmen will. Dass ich wegschauen möchte, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, und dass mir genau das beim Lesen des Buchs bewusst wird.

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Pulse of Europe

Ein Text für das offene Mikrofon

Eigentlich bin ich ja nicht der Typ, der sich bei so einer Veranstaltung mit einer klaren Meinung vor die Menge stellt. Häufig fehlt mir diese Meinung einfach, weil ich zu vielen Dingen skeptisch gegenüberstehe, Pro und Contra sehe, gerade, wenn ich sie für grundsätzlich gut halte.

Für mich ist Europa nicht das essentielle Friedensprojekt, ohne das hier jetzt Krieg ausbrechen würde. Da bin ich vielleicht in der falschen Zeit für aufgewachsen. Ich bin auch nicht mit Interrail durch Europa gereist, oder habe bei Erasmus mitgemacht. Und ich bin niemand, der laut ruft: „Wir brauchen die EU, um auf dem Weltmarkt nicht unterzugehen und wirtschaftliche Macht auszuüben.“ Das mag zwar stimmen, ist aber aus mehreren Gründen1 ein blödes Argument, nicht nur, weil man damit niemanden wirklich begeistert – „Wirtschaftliche Macht, Yay!“

Ich bin eher jemand, der sich die 10 Grundthesen dieser Veranstaltung im Internet nochmal genau anschaut und sich fragt: Wofür stehen wir eigentlich hier? Für Europa, den Kontinent? Für die EU, die Institution? Den Euro, Schengen, …? Wahrscheinlich gibt es aus vielen Gründen2 keine Antwort auf diese Frage. Die 10 Grundthesen sprechen in ihren Überschriften immer von Europa, wahrscheinlich, weil das schön konsensfähig ist, streuen im Fließtext dann aber schön die EU ein. Und ich sitze dann da und frage mich: „Ist ja clever, aber muss ich wirklich so manipuliert werden?“

Trotzdem bin ich für die Sache absolut zu haben. Europa ist gut und wichtig. Vor zwei Wochen, hat eine der jüngeren Rednerinnen hier gesagt: „Meine ältere Schwester ist gerade bei ihrer Austauschschülerin in Frankreich. Das finde ich cool, das will ich auch machen, wenn ich alt genug bin.“ Und diese Aussage finde ich unglaublich wertvoll, weil…

Menschen haben Vorurteile. Immer. Wahrscheinlich aus gutem evolutionsbiologischem Grund. Da sitzt mir jemand in der Bahn gegenüber, der fremd und komisch aussieht – da bin ich erst mal vorsichtig. Dann wirkt der auch noch irgendwie islamistisch – da haben mir die Nachrichten gesagt, das sind die schlimmsten. Vernunftgemäß weiß ich, das ist ein Vorurteil, das stimmt wahrscheinlich nicht, die meisten sind voll okay. Trotzdem handle ich nicht so.

Würde ich aber mehr Menschen aus dieser Gruppe kennen – ihre Kultur, ihre Gebräuche –, dann wäre diese Einsicht jedoch auch emotionaler Art, und nicht mehr nur vernunftgemäß. Dann fallen Vorurteile, ganz radikal. Und das hat die EU (als Institution) für Europa (als Kontinent) mit verschiedensten Maßnahmen geschafft – was solche Aussagen wie die der jungen Rednerin zeigen.

Und das finde ich furchtbar wichtig und auf jeden Fall schützenswert.


  1. Wirtschaftliche Macht für wen denn? Deutschland? Dass das nicht vollumfänglich positiv ist, zeigen die Nachrichten↩︎

  2. Legt man sich fest, kriegt man keine Demonstration auf die Beine. Außerdem sollte sich jeder seine Meinung selbst bilden, durchaus auch auf der Veranstaltung selbst, aber sie sollte nicht von oben vorgegeben werden. ↩︎


Ebenfalls erschienen im Neologismus 17-04

Perspektivwechsel

Teil 1: Durlach

Wenn ich zur Arbeit pendele, hält meine S-Bahn morgens als erstes und abends als vorletztes in Karlsruhe-Durlach. Gerade abends ist dieser Stopp für mich ein Sinnbild für Feierabend geworden. Mit einem Großteil der anderen Passagiere verlassen auch viele meiner Kommilitonen den Wagen, bevor die S-Bahn gerade um diese Jahreszeit zu Sonnenuntergang in entspanntem Tempo in den Hauptbahnhof einrollt.

Kürzlich habe ich mich daran erinnert, wie ich das erste mal in Durlach am Bahnhof gestanden habe. Nach einer mehrtägigen Einführungsveranstaltung für mein Studium hatte man uns dort abgesetzt. Mit der Öffi-App, dem lokalen Abfahrtplan, und wahrscheinlich auch der Hilfe meiner Kommilitonen konnte ich damals das Gleis für die Rückfahrt in meine frisch bezogene Wohnung finden. Ich weiß noch genau, wie froh ich war, die Tür hinter mir zuziehen und in mein eigenes, ruhiges Bett fallen zu können.

Was mir allerdings jetzt erst auffällt, ist, wie sehr sich der Ort doch verändert hat. Ich erinnere mich noch genau, wie sonnig es war. Wie der Bahnhof für meinen Geschmack zu viele Gleise hatte, dafür, dass es doch gar nicht der Hauptbahnhof ist. Wie verlassen von Zügen, aber wie voll von Menschen alles war. Wie ich wahrscheinlich mit der effektiv schlechtesten Verbindung nach Hause gefahren bin, weil ich dem Karlsruher Verkehrsverbund noch nicht vollständig vertraut habe.1

Das hat alles nichts mehr mit dem Durlacher Bahnhof zu tun, den ich jetzt kenne. Der halt Gleise für den KVV und Gleise für den Schienenverkehr der Deutschen Bahn hat. In dem es einen Subway gibt, in dem ich schon ein paar mal nach Feierabend noch mit Freunden ein Sandwich gegessen habe. In dem die Sonne nicht blendet, sondern Zeichen für einen angenehm warmen Feierabend sein kann. Oder in ihrer Abwesenheit vielleicht für einen regnerischen – immerhin weiß ich jetzt, wie ich schnell (und trocken) nach Hause kommen kann.

Aber eigentlich hat sich – im Gegensatz zu weiten Teilen der Karlsruher Innenstadt, in der man ja die Straßenbahn vergraben möchte – recht wenig verändert. Nur die Selbstverständlichkeit, mit der ich der Situation (Bahn, Bahnhof, obligatorische 5-minütige Verspätung) begegne. Ich glaube, manchmal braucht man solche Einsichten, um die unglaublich schönen Momente solcher Selbstverständlichkeiten zu begreifen.

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Einmal Europa bitte!

Eindrücke von einer Demonstration

Jeden Sonntagmittag um 14 Uhr findet in Karlsruhe, wie in vielen anderen Städten in Deutschland und dem Rest von Europa auch, eine Pulse of Europe-Demonstration statt. Es fällt mir immer ein bisschen schwer, in Worte zu fassen, worum es da genau geht, ohne komisch zu klingen. „Pulse of Europe ist eine Bewegung der bürgerlichen Mitte für ein einiges Europa“ ist die beste Definition, die mir so spontan eingefallen ist. Wikipedia definiert die Aktionen so: „Pulse of Europe ist eine 2016 in Frankfurt am Main gegründete überparteiliche und unabhängige Bürgerinitiative mit dem Ziel, den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar (zu) machen.“

Wirkliche Beachtung hat die Aktion Anfang des Monats gewonnen – einzelne meiner Follower auf Twitter haben Bilder mit dem Hashtag #PulseOfEurope aus Bonn gepostet, und in dem Moment war ich schon daran interessiert, ob diese Veranstaltung auch in Karlsruhe existiert. Sogar die Tagesthemen haben abends über die Aktion berichtet. Und so war es nur eine Frage der Zeit – nämlich „wann ist das nächste Mal Sonntag“ – bis ich auch die Demonstration besuchen würde.

Parallelen

Auf dem Weg zum Veranstaltungsort, dem Platz der Grundrechte, musste ich zurückdenken an eine ähnliche Situation vor zwei Jahren. Die Pegida-Spaziergänge waren gerade groß im Kommen, hier in Karlsruhe heißt der Ableger inzwischen „Karlsruhe wehrt sich“ und wird als radikaler als das Dresdner Vorbild eingeschätzt. Damals bin ich mit einem Kommilitonen auch aus Interesse an der Situation und den Gegendemonstranten zum Europaplatz gegangen. Einzelheiten kann man im Artikel von damals nachlesen, aber ein paar Dinge seien hier nochmal gesagt:

Die Spaziergänge fanden und finden immer Montagabends statt – vor der Zeitumstellung dunkel und irgendwie kalt und bedrohlich. Nach den Erfahrungen der vorigen Wochen war damals viel Polizei anwesend, die Demonstranten und Gegendemonstranten voneinander trennen sollte. Beamte in Schutzausrüstung, die bei mir irgendwie eher für Unruhe anstelle eines Gefühls von Sicherheit gesorgt haben. Letztendlich sind wir nur auf Seite der Gegendemonstranten gewesen und gar nicht zu den Pegidisten durchgekommen – was ich irgendwo schade fand, weil ich mich gerne inhaltlich mit ihren Positionen auseinandergesetzt hätte. Was sagen sie? Ist das fundiert? Kann ich argumentativ vielleicht Widersprüche aus ein paar Anwesenden herauskitzeln, oder muss ich einigen Punkten vielleicht sogar zustimmen?1 Letztendlich haben aber die Trommeln der Gegendemonstranten die Reden der Pegida-Anhänger übertönt; einzig Fetzen der deutschen Nationalhymne sind bis zu mir und meinem Kommilitonen durchgedrungen.

Aber das sollte dieses Mal anders sein. Auch wenn das Wetter am Wochenende zuvor wesentlich besser gewesen war, war es – schlicht der Tageszeit geschuldet – angenehm und beruhigend hell. Die Grundstimmung war eine ganz andere, mit den Menschen, die einfach ihr Wochenende in der Innenstadt und am Karlsruher Schloss genießen. Und dazwischen die kleine Demonstration, für die eigentlich eine bessere Bezeichnung gefunden werden müsste. Denn es gab keine Transparente oder Parolen skandierende Demonstranten – im Gegenteil. Man wurde begrüßt von einer netten Frau, die eine kleine Europa-Fahne aus Plastik und Schoko-Taler mit EU-Logo drauf verteilt hat.2 Anwesend waren Menschen aller Altersklassen, Studenten, Rentner mit ihren Enkeln, Familien, sogar ein Säugling eingewickelt in eine Europa-Fahne schlafend am Bauch seines Vaters. Am Rand hat man Plakate aufgehängt und daneben ein paar Eddings: „Europa ist für mich…“ – „Das kann Europa gut…“ – „Wir brauchen Europa, weil…“. Und die Leute haben Dinge aufgeschrieben, von offenen Grenzen über Menschenrechte und Humanismus bis hin zu Wirtschaftsmacht und freiem Handel.

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