So ein Bahnhof ist ja schon ein paradoxer Ort, stelle ich fest, als ich die S-Bahn verlasse und auf den Bahnsteig trete. Ein Ort voller unterschiedlicher, widersprüchlicher Gefühle, voller Leben – insbesondere an diesem warmen Freitagabend im Spätsommer. Am gegenüberliegenden Gleis hält ein Intercity, Menschen steigen ein und aus.
Ich stelle mir vor, was sie gerade denken. Ein blondes Mädchen mit roter, weiß gepunkteter Tasche fällt aus der Tür einem Jungen in den Arm, der wahrscheinlich ihr Freund ist, der versucht cool zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie vermisst hat, und zumindest für die nächsten paar Tage nicht mehr weggehen lässt. Einen halben Wagen weiter ist die genau umgekehrte Szene. Er, Ende 20, mit Anzug und unauffälligem Rollkoffer, küsst seine Verlobte, flüstert ihr wahrscheinlich ins Ohr, dass er schon bald wieder zurück sein wird, und dreht sich in Richtung Tür.
Dort reicht ein älterer Mann, dessen weiße Haare unter seinem Hut hervorragen, gerade seiner Frau die Hand, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Vielleicht fahren sie übers Wochenende irgendwohin in den Urlaub, oder besuchen ihre Kinder in einer anderen Stadt. Die Frau lächelt ihn an und lässt seine Hand nicht mehr los, als sie den Zug betreten hat. Und ich lächle auch.
In Richtung des Vaters und der Mutter, deren Tochter gerade mit schwerem Rucksack bepackt ganz offensichtlich von einer halben Weltreise – mindestens von ein paar Wochen Abenteuern mit Freunden – zurückkommt, und die offensichtlich froh sind, dass es ihr gut geht. In Richtung der Gruppe Männer mittleren Alters im Wanderoutfit und mit Bierdosen in der Hand. Und auch aufmunternd in Richtung des Mannes, der zu einem Fenster winkt, gegen das von innen die Hand seines Freundes gepresst ist, der mit den Tränen ringt. Egal, wie lange die beiden getrennt sein werden, ich weiß, sie werden sich wieder sehen, irgendwann – und dann einander in die Arme fallen wie der Junge und das Mädchen mit der rot-weißen Tasche.
Und natürlich lächle ich auch dich an, als du mir am Bahnsteig entgegen kommst und sich dein linker Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hebt. Ich beschleunige meine Schritte für die verbleibenden Meter, die mich von deinen Armen trennen.
„Ich habe dich vermisst“, flüsterst du mir ins Ohr.
„Die ganze Zeit, seit dem Frühstück… Das muss richtig hart gewesen sein“, antworte ich augenzwinkernd, stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke dir einen Kuss in den Dreitagebart. Du hebst kurz eine Augenbraue, doch statt des ironisch-empörten „Hey“, das ich erwartet hatte, wandert deine Hand an meinem Rücken hoch bis in meine Haare, und du küsst mich auf den Mund. Ich drücke in der Umarmung noch ein letztes Mal fester zu, bevor ich dich langsam loslasse.
„Wie war dein Tag?“, frage ich, während meine Finger die deinen suchen.
„Gut“, antwortest du und drückst einmal kurz meine Hand.
„Was hältst du davon, wenn wir mal was Verrücktes machen“, sagst du und wirbelst mich herum. „Lass uns gemeinsam weglaufen. Jetzt, hier. Der IC fährt durch bis Stralsund, und das Meer hat die Farbe der Freiheit.“
Ich bin kurz verwirrt. „Weglaufen? Aber… wir haben doch…“
„Termine?“, unterbrichst du mich, „Die können warten. Das ist wahrscheinlich die letzte Chance vor dem Winter!“
„Aber wir können doch jetzt nicht einfach wegfahren. Ich bin gerade erst angekommen und will nur nach Hause, was essen und vielleicht noch einen Film gucken… Das war ein anstrengender Tag heute.“ Du hebst eine Augenbraue und hältst inne.
„Erinnerst du dich an die Zeiten, in denen du noch Lieder über wahre Liebe geschrieben hast?“, fragst du unerwartet.
„Kennst du dieses Gefühl, dass schon alle wirklich wichtigen Worte zu dem Thema gesagt wurden?“, entgegne ich und blicke in deine tiefen Augen.
Du schüttelst den Kopf: „Du solltest eine wissenschaftliche Abhandlung über die Metaphorik der Selbstzweifel schreiben, wenn du mich fragst.“
„Wie meinst du das denn jetzt?“
„Wir sind noch jung! Wir haben noch nicht alles gesehen. Noch nicht alles gesagt, noch nicht alles gemacht. Noch nicht alle Lieder geschrieben.“ Du drehst dich in Richtung des Intercitys, der immer noch am Gleis steht. „Das hier wird dein nächstes Lied, ich versprech’s dir.“ Du hältst mir deine Hand hin.
„Aber wir haben doch überhaupt keine Sachen gepackt für eine solche Reise“, schüttele ich den Kopf, muss aber auch ein bisschen lachen. „Was willst du machen, wenn wir angekommen sind? Im Bahnhof übernachten?“ Ich blicke in Richtung Ausgang. „Lass uns lieber nach Hause gehen.“
„Und dann werden wir alt und vergessen“, sagst du theatralisch, „unser einziges Lebenszeichen die ‚zuletzt online‘-Angabe bei WhatsApp, und auf unserem Grabstein wird stehen: ‚Hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben‘.“ Du malst den Umriss mit den Händen in die Luft, und ich muss lächeln. „Sei doch mal mutig“, forderst du mich heraus. „Tanz mit dem Leben!“
Ich habe immer zu mir selbst gesagt, derjenige, der mich zum Tanzen bringt, ist der richtige für mich. Und eigentlich habe ich gedacht, das hättest du bislang noch nicht geschafft.
Aber wir haben getanzt, strahlen deine Augen, weißt du nicht mehr? Walzer, im Regen, vor dem Kino. An den Film erinnere ich mich schon gar nicht mehr. Nur an die wirbelnden Lichter der Stadt.
Irgendwo knarzt eine Durchsage. Irgendwo ertönt eine Trillerpfeife. Eine Taube fliegt über die Gleise hinweg und landet auf einer verlassenen Sitzbank. Das Rauschen der Menge verblasst, und der Intercity ruht immer noch am Gleis.
„Du hattest doch mal diese Metapher in einer deiner Kurzgeschichten… ‚Wir haben den letzten Zug verpasst‘“, zitierst du.
„‚Aber er wäre eh in die falsche Richtung gefahren‘“, ergänze ich.
„Also ich sehe hier noch mindestens einen Zug, der heute noch fährt. Und in welche Richtung, ist doch eigentlich vollkommen egal.“
„Weil wir zusammen sein werden.“
Du lächelst. Dann machst du einen Schritt nach hinten, über die kleine Lücke zwischen Bahnsteig und Trittbrett, und steigst in den Zug ein.
Douglas Adams, Autor der Romanreihe Per Anhalter durch die Galaxis, hat bereits 1995, als Spiegel Online nicht mal ein Jahr alt war, für das Technologie-Magazin Wired einen Artikel über Innovation und ihre Auswirkungen auf die Medien geschrieben: „Einige der revolutionärsten neuen Ideen beruhen darauf, daß jemand etwas Altes entdeckt, das weggelassen werden kann, statt sich was Neues einfallen zu lassen, das man hinzufügen könnte.“
In seinen folgenden Ausführungen berichtet er vom Walkman, der einfach ein Kassettenrekorder ohne Verstärker und Lautsprecher ist. Er erklärt, dass man auch einfach Teile des Problems weglassen kann, wie alle Ziffern größer 1, um einen Computer zu bauen. Und, für uns am wichtigsten: Aus dem Modell „Zeitschrift“ lassen wir einfach „die Idee anständig gebundener und verkaufter Stapel von zu Hochglanzpapier verarbeitetem Holzbrei“ weg – die Leser erhalten trotzdem „eine Konzentration des Stoffes […], an dem sie interessiert sind, und das in einer Form, die leicht zu finden ist, mit dem zusätzlichen Vorteil, daß sie einfach nahtlos auf alle möglichen verwandten Materialien verweisen kann“.
Schon damals hat sich Douglas Adams die Frage gestellt, wie man diese neue Form des Mediums in Zukunft finanzieren könne. Denn bislang, so Adams, sei jeder Zeitungsverkauf hauptsächlich der Versuch gewesen, die Druckkosten zu amortisieren, mit denen man auch die journalistische Arbeit finanziert – so wie Xerox High-Tech-Kopierer entwickle, um einen (profitablen) Markt für Tonerpatronen zu schaffen.
Und ab dann wird es utopisch und im Rückblick leider falsch. Einerseits spricht er von Werbung, die online dadurch für alle Beteiligen (insbesondere auch die Werbenden) besser würde, wenn man ihre nervige Auffälligkeit weglässt – ohne Werbeblocker kann ich das Internet inzwischen nicht mehr aushalten. Andererseits spricht er davon, dass „Leser minimale Beträge dafür zahlen, daß sie beliebte Internetseiten lesen können“, was, so Adams, „wahrscheinlich sofort in in die Tat umgesetzt wird, sobald man im Internet virtuelles Bargeld benutzen kann“. Haha… Ha.
Jetzt kann man natürlich streiten, ob es wirklich so etwas wie „virtuelles Bargeld“ praktikabel gibt, aber klar ist auch, dass man im Internet sehr einfach Geld für Dinge zahlen kann. Die Frage ist also: Warum zahlen wir nicht? Beziehungsweise, weil ich hier nicht für alle Leser sprechen kann: Warum zahle ich nicht?
Vor ein paar Tagen hat eine Freundin über den Sinn des Lebens getwittert: „Sinn des Lebens ist es, den Sinn des Lebens nicht zu kennen. Denn wenn man den Sinn des Lebens kenne würde, hätte das Leben keinen Sinn mehr.“
Diese Aussage deckt sich in gewisser Weise mit zwei Thesen, mit denen Douglas Adams seinen Roman Das Restaurant am Ende der Galaxis eröffnet: „Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau rausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch etwas noch Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt.
Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.“
Und weil dieses Thema so spannend ist, habe ich mich entschieden, es vor den in der letzten Ausgabe versprochenen Beitrag zu Erkenntnistheorie zu schieben.
Warum fragen wir?
Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen wir ganz offensichtlich aus Angst. Wir kriegen Panik, wenn wir daran denken, dass wir vielleicht nur ein Zellhaufen mit Haftpflichtversicherung sind. Wir wissen nicht, warum wir die Dinge tun, die wir tun. Und insbesondere fürchten wir uns davor, was nach unserem Tod kommt.
Schnell jedoch stellt sich heraus: Nach dem Sinn fragen wir eigentlich nur, weil wir erwarten, dass es für unser Leben einen Zweck gibt, der vom Einzelnen unabhängig ist – Sinn ist also, so die allgemeine Vorstellung, etwas extern Vorgegebenes.
Seit Donald Trump allen Umfragen zum Trotz zum Präsidenten der USA gewählt wurde und dabei durchaus auch alternativen, rechten Nachrichtenseiten mit fragwürdigem Wahrheitsgehalt Einfluss zugesprochen wurde, ist ein neues Wort in aller Politiker und Journalisten Munde: Fake News.
Grundsätzlich finde ich eine offene Debatte um die verschiedensten Probleme unserer Welt gut und freue mich auch immer darüber, wenn sie grundsätzlicher als schlichte Tagespolitik werden. In ihrer aktuellen Form ist die Debatte über Fake News jedoch meiner Meinung nach mindestens problematisch.
Wenn man die gerade geführte Debatte nämlich mal zynisch auf einer Metaebene betrachtet, sieht man Menschen, vornehmlich Journalisten, die gerade ihre Glaubwürdigkeit verlieren, mit empörter Stimme fragen: „Warum glaubt uns denn keiner mehr?!“ Statt sich jedoch selbstkritisch damit auseinanderzusetzen, warum man als Lügenpresse beschimpft wird (sehr krass) oder die eigenen Zuschauer oder Leser schwinden und weniger Vertrauen in die journalistische Arbeit haben (weniger drastisch), wird die in Zeiten des Internets immer stärker werdende Konkurrenz von „freien Seiten“ und den sozialen Medien kritisiert.
Das ZDF heute journal vom 12. Dezember widmete sich sehr ausführlich und irgendwie repräsentativ dem Thema. Claus Kleber eröffnet die Sendung mit dem Thema, es gibt einen Einspieler mit Beispielen, Informationen und Politikern und ein Experteninterview, bei dem Interviewer und Interviewter irgendwie ein bisschen aneinander vorbeireden.
Definitionsversuche
Aber der Reihe nach. Was sind eigentlich Fake News? Dieser Begriff, der irgendwie nach der US-Präsidentschaftswahl aus dem Nichts gekommen ist, scheint sich einheitlichen Definitionsversuchen nämlich bislang zu entziehen. Im Einspieler im heute journal scheint das zunächst ganz simpel; Anhand von drei einfachen Beispielen (unter anderem „Die Kanzlerin sieht in ihrer Diktatur keinen Platz für Demokratie“) wird dem Zuschauer klar gemacht, worum es hauptsächlich geht: Offensichtliche Unwahrheiten. Das mag zwar in vielen der populär gewordenen Fällen stimmen, aber häufig reicht es bei solcher Propaganda ja schon, gezielt kleine Teile der Wahrheit wegzulassen oder anders zu interpretieren, um eine neue, andere Version der „postfaktischen“ Wirklichkeit zu plausibilisieren. Und dann muss man sich schon fragen: Sind nur offensichtliche Falschmeldungen Fake News? Sind es schon unhinterfragt wiedergegebene, falsche Aussagen von Politikern? Sind es schon Geschichten mit wahrem Faktenkern, der aber tendenziös in eine Richtung ausgelegt und interpretiert wird? Ist es die russische Nachrichtenseite Russia Today deutsch, ihr amerikanisches Gegenstück Breitbart, die jetzt nach Deutschland expandieren will, oder gar Schmalbart von dem Internetunternehmer Christoph Kappes, das explizit Gegenpropaganda zu Breitbart publizieren soll? Bis solche Fragen geklärt sind, bleibt Fake News ein Kampfbegriff ohne Inhalt.