Kulturkampf und Rassismus

Fragen zu politischen Erklärungsversuchen

Am 4. September wurde in Mecklenburg-Vorpommern gewählt. Was sonst außerhalb des Bundeslandes wahrscheinlich wenig Aufsehen erregt hätte, schlug auf Basis des prognostizierten und dann tatsächlich auch eingetroffenen Ergebnisses größere Wellen als erwartet. Die AfD zog aus dem Stand als zweitstärkste Kraft in den Landtag ein; große Verluste bei allen anderen Parteien. In einzelnen Gemeinden auf Usedom kommen AfD und NPD gemeinsam auf über die Hälfte der Zweitstimmen.

Solch schockierende Ergebnisse rufen zweifelsohne verschiedene Erklärungsversuche auf den Plan. Und hier ist ein durchaus interessanter Wechsel der Begründungen für den Erfolg der AfD erkennbar: So war noch vor wenigen Monaten das Bild des typischen AfD-Wählers der wirtschaftlich Abgehängte, dessen Probleme nicht von den Altparteien gelöst werden und der die einfachen Lösungsvorschäge der AfD attraktiv findet. Gerade im Osten sind nach dem Zusammenbruch der DDR viele Lebensläufe gebrochen, und gerade im Osten kann die eigentliche soziale Alternative, die Linkspartei, wegen eventueller personeller Verstrickungen im DDR-Regime nicht so sehr punkten, wie sie es eigentlich müsste. Dieses „Klassenkampf“-Argument klingt auch immer noch sehr plausibel. Dennoch wird in den Tagen nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern verstärkt ein anderer Konflikt als zunehmend bedeutungsvoller dargestellt: Ein „Kulturkampf“.

Im Kern führt Hannah Beitzer für die Süddeutsche Zeitung das Argument in einem Kommentar recht schlüssig auf: Es gibt keinen Beleg dafür, dass die persönliche wirtschaftliche Lage maßgeblich ist für die Wahlentscheidung; stattdessen zieht sich als wahrer Grund eine gefühlte Unterhöhlung von tradierter Gesellschaft und Kultur durch alle sozialen Gruppen, insbesondere eben auch durch die Gruppe derjeniger, die sich selbst als hart arbeitende Bevölkerung wahrnehmen. Die Autorin schlussfolgert daraus: „AfD-Wähler sind Rassisten, keine Abgehängten“ und stellt fest, dass einfache soziale Maßnahmen das Problem AfD nicht lösen werden. Interessant ist ihre Beobachtung, warum das Kulturkampf-Argument nicht schon weit vorher in der Debatte angekommen ist: So lange man die AfD-Wähler noch an den prekär lebenden gesellschaftlichen Rand schieben konnte, hatte man nicht direkt und unmittelbar mit ihnen zu tun; die Angst vor Kulturverlust kann auch den gutbürgerlichen Nachbarn zu einem vermeintlichen, rassistischen AfD-Wähler machen.

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Die Datenkrake

Über WhatsApp und Zentralismus

Was habt ihr denn erwartet? Dass ein börsennotiertes Unternehmen 19 Milliarden Dollar ausgibt, ein wichtiges Kommunikationsmedium zu kaufen, um es dann kostenlos an alle zu verteilen, ganz ohne davon selbst irgendwie profitieren zu können? Mit Sicherheit nicht. Spätestens als das ehemals kostenpflichtige Angebot von WhatsApp plötzlich kostenfrei wurde, hätte man eigentlich zweifeln müssen.

Aber es ist doch so bequem. Ich installiere diese App auf meinem smarten Mobiltelefon, bestätige dort kurz meine Telefonnummer, und schon sehe ich alle Menschen, deren Telefonnummer ich im Telefonbuch eingetragen habe und die auch WhatsApp verwenden, und kann problemlos mit ihnen schreiben, ohne dass dafür diese lästigen SMS-Gebühren anfallen. So etwas gab es vorher noch nicht, und alle anderen mobilen Messenger sind letztendlich ein Abklatsch dieses Originals, dass mit Abstand die größte Nutzerbasis hat. Weite Teile meines alltäglichen Lebens wären ohne WhatsApp sehr kompliziert. Wenn ich, ob aus Karlsruhe oder den USA, dem Rest meiner Familie schreiben möchte, wie es mir geht, läuft das über einen Gruppenchat auf WhatsApp. Wenn zur Unizeit eine Vorlesung spontan ausfällt, erfahre ich das frühzeitig über WhatsApp – und kann im Bett bleiben. Wenn ich mich mit Freunden treffen möchte, läuft die Verabredung auch in den meisten Fällen über – wer hätte es gedacht – WhatsApp. Kurzum: Ohne WhatsApp wäre ich ein von weiten Teilen meines sozialen Umfelds abgeschnittener Mensch. Und das gilt garantiert für sehr viele Jugendliche und Erwachsene meiner Altersklasse.

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East Side Story

Der Erzählung erster Teil

“Go West, young man, go West. There is health in the country, and room away from our crowds of idlers and imbeciles.”

“That,” I said, “is very frank advice, but it is medicine easier given than taken. It is a wide country, but I do not know just where to go.”

Kapitel 1: „Go West, Young Man“

American Progress

American Progress

Der Aufruf zum Aufbruch gen Westen stammt aus der Zeit, in der die Vereinigten Staaten von Amerika noch ein junges Land waren. Irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt, war er Werbung für einen Ausweg aus den überfüllten Städten Europas und insbesondere der Ostküste des neuen Kontinents. Die unbesiedelte Wildnis des Landes sollte mit Zivilisation gefüllt werden, eine Existenzgründung im Westen versprach den jungen Pionieren Land, und ein gutes Leben als Belohnung für erfolgreiche Arbeit – der amerikanische Traum.

Heute, wo der Wilde Westen weite Teile seiner Wildnis verloren hat, hat sich im vormals alten Europa immer noch ein Teil des Go-West-Geistes gehalten: Der American Dream vieler Europäer ist es heute, diesen verwandten, aber doch irgendwie fremden Kontinent zu besuchen. Denn, und da gilt das einleitende Zitat heute noch, Amerika „is a wide country“, egal ob in seinem Westen oder seinem Osten. Und so zieht es jedes Jahr fast 2 Millionen deutsche Besucher in die Staaten, die technisch gesehen genau eins tun: Nach Westen gehen.

Als sich im Rahmen meines dualen Studiums die Möglichkeit ergab, für 3 Monate im Ausland zu leben und zu arbeiten, war auch mein erster Gedanke ein Ziel im Westen. Und nach einigen Monaten Vorbereitung und Planung stand irgendwann auch das konkrete Ziel fest: Ein kleiner Ort in der Nähe der Ostküste der Vereinigten Staaten: Newtown Square in der Nähe von Philadelphia, zufällig der amerikanische Hauptsitz meines dualen Ausbildungsbetriebs.

So soll mich also diese Serie, deren erster Teil Ihnen, werte Leserinnen und Leser, gerade vorliegt, auf meiner Reise begleiten, bis ich im November meinen Heimweg antrete. Ich möchte berichten von der anderen Seite des Teichs, von Kultur und Politik – und vielleicht auch von den Menschen, die hier leben.

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Cemetry of Memories

Telling, as my hands still tremble,
The story of our fast decay
Let all your colours disassemble
Because your eyes were black that day

Forget those dreams that once were ours
Pushing to be dreamed again
A dream of heart that just devours
The love that is now gone insane

We were Cerulean

Enlightened by the setting shine
Of our star that now is mine
To keep bright in this howling breeze

A story – one in myriad
This bigotry I bury at
My Cemetry of Memories


Ebenfalls erschienen im Neologismus 16-08

Daniel und die Wunderpflanze

Eine geführte Kurzgeschichte

Einleitung

Wunderschöne Schreibschrift

Wunderschöne Schreibschrift

In der diesjährigen März-Ausgabe des Neologismus und auch auf dieser Website habe ich bereits eine meiner älteren Kurzgeschichten ausgegraben und in kommentierter Fassung veröffentlicht. Nach einem kurzen Blick in mein Archiv alter Kurzgeschichten ist mir aufgefallen, dass dort noch einige weitere Werke existieren, denen eine Einordnung gut zu Gesicht stehen würde. Und so soll dieser Artikel mit „Daniel und die Wunderpflanze“ eine zweite Kurzgeschichte beinhalten, durch die ich als Autor Sie als Leser führen werde. Wie gehabt ordne ich die Geschichte erst in ihren Entstehungskontext ein, darauf folgt die Kurzgeschichte selbst, nach der ich mich an die Interpretation selbiger wagen werde.

„Daniel und die Wunderpflanze“ ist eine Kurzgeschichte, die in der zweiten Klasse entstanden ist. Sie ist die letzte in einem so genannten „Geschichtenheft“, das auf der linken Seite Platz für Bilder bietet, und auf der rechten Seite Zeilen für Schreibanfänger. Die ersten vier Bilder der Geschichte waren als Kopien vorgegeben und mussten ausgemalt und eingefärbt werden. Dazu sollten die Grundschüler eine kurze Geschichte entwickeln und passend neben den Bildern aufschreiben. Die vorgegebenen Bilder lassen das Ende der Geschichte offen, weswegen weitere Bilder von den Autoren selbst zu ergänzen waren.

Im Folgenden nun die Kurzgeschichte in Begleitung einer Auswahl der Bilder.

Kurzgeschichte

Wunderschöne Gemälde

Wunderschöne Gemälde

Eines Tages spazierte Daniel über den Markt. Er ging zum Zauberer Liporelo. Er sagt: „Was hast du denn für Blumen?“ – „Tulpen, Wunderpflanzen, und und und…!“ Daniel spricht: „Ich hätte gerne die Samen von Wunderpflanzen.“ „Das macht 3€“, antwortet Liporelo. „Hier“, sagt Daniel und gibt ihm das Geld.

Dann läuft Daniel nach Hause und pflanzt einen der Samen ein. Er gießt den Samen noch, und dann geht er schlafen. Plötzlich wächst die Pflanze riesig groß, packt Daniel und zieht ihn ins Wolkenschloss zu Gott. Dort bleibt er 1 Jahr. Aber er kommt nicht mehr herunter, denn er hat vergessen, die Blume zu gießen!

Da hat er eine Idee. Er ruft mit dem Handy die Bundeswehr an und die holt ihn nach einigen Versuchen wieder herunter.

Interpretation

Was möchte uns der Autor mit diesem kurzen Stück sagen? Meiner Meinung nach findet hier eine sehr vielschichtige Dekonstruktion von Gesellschaft und Religion statt, doch beginnen wir mit dem Anfang der Geschichte:

„Eines Tages spazierte Daniel über den Markt.“ Mit dieser eröffnenden Formulierung referenziert der Autor ganz klar die grimmschen Märchen und erklärt sehr direkt seine Absichten: Es geht nicht um eine realistische Schilderung von Ereignissen; vielmehr dominieren Metaphern und es gibt eine Moral. Zudem werden wir den Protagonisten bei seiner Abenteuerreise begleiten. Und diese beginnt, wie wir lesen, auf dem Markt.

„Er ging zum Zauberer Liporelo.“ Wir lernen hier, wieder märchentypisch, ein magisches Wesen kennen, das den Helden, wie wir später erfahren werden, mit Zaubergaben ausstatten wird. Doch im Gegensatz zu normalen Märchen, wo die Begegnung mit dem Magischen nicht vom Protagonisten initiiert wird, ist es hier Daniel, der direkt zum Zauberer geht, was für eine Emanzipation des Protagonisten vom märchenhaften Zufall spricht.

Der Name des Zauberers ist Ausdruck tiefer Gesellschaftskritik: Wir sehen auf den Bildern, dass der Protagonist Daniel noch ein Kind ist, und der Zauberer Liporelo ein erwachsener Mann. Dass sein Name dem Begriff Leporello so sehr ähnelt, kann kein Zufall sein. Leporello bezeichnet eine Basteltechnik: Ein langes, schmales Stück Papier wird mehrfach in entgegengesetzer Richtung gefaltet. Aus dem kleinen, so entstandenen Stapel aus Papier schneidet man nun die Silhouette eines Menschen aus, und wenn man das Papier wieder auseinanderfaltet hat man eine Kette der ausgeschnittenen Menschen, die sich gegenseitig an den Händen halten. Der Autor kritisiert hier, dass die Erwachsenen häufig so sind wie ein Leporello, nämlich alle gleich. Zudem erlaubt sich der Autor ein subtiles Wortspiel: Indem er statt „Leporello“ „Liporelo“ schreibt, versteckt er das griechische Wort „lipos“, was auf deutsch übersetzt „fett“ bedeutet, und wieder eine Kritik an unserer Gesellschaft ist.

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