#GratisBild
Am 9. November wurde der 25. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Die jedes Jahr aufs Neue gezeigten Bilder vom Brandenburger Tor treiben noch heute Tränen der Freude in die Augen. Dieses Jahr will auch eine große deutsche Tageszeitung mit einer Gratisausgabe mitfeiern. Ich habe die „Gratis Bild“ gelesen.
Eigentlich sollte man sich ja freuen, dass es einer deutschen Zeitung gut genug geht, eine kostenlose Ausgabe an alle Haushalte der Republik zu schicken. Dennoch – unverständlicherweise – kommt die Aktion nicht bei allen gut an; die Bildzeitung genießt in Teilen der Bevölkerung scheinbar kein sehr hohes Ansehen. Von zynischen Tweets über Papierverschwendung und mögliche Weiterverwendungen des Rohstoffs unter dem Hashtag #GratisBild bis hin zu Umtauschaktionen gegen das Satire-Magazin „Titanic“ durch „Die Partei“ wurde die doch wahrscheinlich eigentlich gut gemeinte Verbreitung von historischen und aktuellen Informationen zu einem so bedeutsamen Ereignis stark diskreditiert. Daher habe ich beschlossen, ein gewagtes Experiment zu starten: Ich werde diese Zeitung tatsächlich lesen! Und natürlich hier darüber berichten.
Schlagen wir die Zeitung also mal auf. Schon dieser Schritt gestaltet sich schwieriger als gedacht, denn eine Doppelseite nimmt eine Fläche von einem halben Quadratmeter ein – das ist die Generation 6-Zoll-Handy nicht mehr gewohnt. Dennoch habe ich mit meinem Bett einen Ort gefunden, auf dem man das Schriftstück bequem ablegen, aufschlagen und studieren kann.
Betrachten wir aber zunächst die Titelseite. Oben links, wie zu erwarten, das große rote Logo der Zeitung – sollte der Leser die Lektüre gut finden, soll er sich schließlich genau erinnern können, wie diese großartige Zeitung nochmal hieß. Ebenfalls recht prominent platziert findet man direkt schon mal Werbung, die das Textwerk finanzieren muss: Volkswagen wirbt subtil nur mit seinem Logo, Goodyear mit dem „Deutschland.Reifen“, beworben von einer Frau in schwarz-rot-gold. Ob der dazugehörige englischsprachige Werbeslogan „25 GOOD YEARS“ wirklich dem Ereignis angemessen ist, kann bezweifelt werden, muss es aber nicht.
„Liebes Deutschland“ – eine Gedichtinterpretation
Eigentlich liegt der Fokus sowieso eher auf dem großen, roten Schriftzug „Liebes Deutschland“. Hinterlegt ist ein großes Bild von einem Spalt in der Mauer. Darunter dürfen wir als Leser ein lyrisches Meisterwerk bewundern: „Dies war einmal ein Stein, und er erzählt uns seine Story.“ Mit dieser als gewagten Stilbruch verkleideten Alliteration beginnt ein Bild-Kolumnist, der durch seine unleserliche Unterschrift wohl unerkannt bleiben möchte, die direkt darauf in die Ich-Form wechselnde Geschichte. Eine rührende Geschichte über ein personifiziertes Stück Beton in einer Mauer, das viel Leid miterleben musste. Leid, von dem im parataktischen Stil, der die Botschaft einhämmert, emotional berichtet wird. Eine Botschaft von Trauer, Schmerz und Tod.
Die Metapher der „Mütter, die weinten“, die Alliteration „im Land ohne Licht“ verstärken gezielt diesen Effekt. Doch dann – man beginnt sich zu freuen: Geräusche aus der Natur durch die Vergleiche „wie in einem Wald“, „wie Spechte“ und onomathopoetisches „Hickhack“ bringen positiv konnotiert freundliche Stimmung in die so feindlich portraitierte Mauer, die langsam zu bröckeln beginnt.
Doch dann kommt die überraschende Wende, die der Autor als typografischen Kunstgriff zur Verstärkung in Großbuchstaben setzen lässt: „ES WAR DER TAG, AN DEM MEIN HERZ […] ZERBRACH.“ Wer kann hier nicht mit dem armen Stein mitfühlen, dessen Herz von den so herzlosen, eigennützigen „glücklichen Deutschen“ gebrochen wurde? Insbesondere, weil der Text (sich nur scheinbar durch Wechsel zum Allwissenden Erzähler distanzierend) den Stein auf höchste Weise vermenschlicht: „Steine können lachen, Steine können weinen.“ Doch was möchte uns der Autor damit sagen?
Meiner Meinung nach spricht schon hier die erste kritische Stimme dieses Presseerzeugnisses: Ja, Mauern einreißen kann etwas Positives sein. Doch man soll sich nicht nur von diesen oberflächlichen Wahrheiten beeinflussen lassen, sondern eben auch Zwischentöne sehen und sich in kleinere Einzelschicksale wie das des Steines hineinversetzen, für die der Fall der Mauer die Welt zerstört hat. Durch hervorragendes Zusammentreffen von fantastischem Inhalt und überragender Form gelingt dies dem Autor hier in besonderer Weise.
Im Inneren der Bild
Schlagen wir die Zeitung nun also zum ersten Mal wirklich auf. Was direkt auffällt: Die Bild wird ihrem Namen gerecht. Zwei jeweils fast seitenfüllende Bilder ziehen den Blick auf sich. Rechts: Menschen auf der Mauer. Schriftzug: „Wir sind das Volk“. Der erfahrene Leser sieht direkt: „Anzeige“ steht oben in den Ecken. Jedoch ist kein Werbepartner ersichtlich. Verwirrend. Schauen wir also nach links:
Man sieht einen einsamen Mann in einem Rollstuhl nachts vor dem Brandenburger Tor. Der Text darunter ist zur Hälfte Hommage an den Kanzler der Wiedervereinigung Helmut Kohl, zur anderen Hälfte eben jenes Glücksgefühle Wecken und Verbildlichen, wie es aus den einleitend erwähnten Videoausschnitten so bekannt ist. Wer erwartet, „wenn Kohl schon für einen Fototermin vor das Sinnbild der Wiedervereinigung geschoben wird, wird da doch auch noch ein Interview dahinter sein“ (so wie ich als naiver Leser), wird enttäuscht. Letztendlich kommt er gar nicht zu Wort, der Autor versucht höchstens seine Gedanken zu raten: „Was mögen seine Gedanken sein? An diesem Ort?“ Daneben steht jedoch ein etwas aus dem Kontext gerissen wirkender, verwirrender Absatz: Der Pariser Platz hieße ja nicht, wie man erwarten würde, so weil Paris eine tolle Stadt sei, sondern anlässlich der Eroberung von Paris durch die Preußen. Für Kohl, der „im Grenzgebiet zu Frankreich! [sic]“ aufwuchs, sei er (daher? So suggeriert zumindest der Text) ein Symbol nicht nur für die deutsche, sondern die gesamte europäische Einigung. Wie bitte? Ein paar Absätze versucht der Text das wieder aufzugreifen und nach dem „Schlechte Erfahrungen, also nie wieder Krieg“-Prinzip zu relativieren. Ein komisches Gefühl bleibt dennoch. Letztendlich ist der Artikel jedoch Boulevard. So wird von Kohls Frau Maike gesprochen, die ihm über seinen Unfall hinweggeholfen hat, und ungarische Studenten die – dank Kohl – nun Reisefreiheit genießen. Ein versöhnliches, aber unbefriedigendes Ende.
Durch einen Abdruck von „Kohls Terminkalender vom November ´89“ versucht der Artikel wissenschaftlich zu wirken („Historisches Dokument!“), schafft es aber nicht wirklich. Denn was steht drin? Im Grunde, wenig überraschend, nichts zur Wiedervereinigung Relevantes.
Die Meinung der Anderen
Beim nächsten Umblättern erklärt sich zu allererst die Werbung der vorigen Doppelseite: Gleiche Aufmachung, großes Bild (dieses Mal 2 Autos), ähnlicher Text: „Wir sind das Auto.“ Aha. Gucken wir aber auf den eigentlichen Inhalt.
Hauptsächlich sind hier Glückwünsche von zwei großen, auf Schwarz-Weiß-Portraits abgebildeten Weltpolitikern der Wiedervereinigung gedruckt: George Bush sen. und Michail Gorbatschow. Während Gorbatschows Text recht neutral bleibt, er den Leser nur mit „Sie“ direkt anspricht und er kurz Willi Brandt zitiert, ist Bush wesentlich emotionsbedachter: Zunächst einmal gratuliert nämlich auch seine Frau Barbara, er betont besonders, dass die Mauer nicht einfach „gefallen“ ist, sondern „umgestoßen“ wurde, und er nimmt häufig Bezug zu Gott. Letztendlich ist in beiden Texten die Rede von so viel Unterstützung der Deutschen Einheit nicht nur von Seiten der Demonstranten in der DDR, sondern von allen Seiten (explizit auch der UdSSR), dass man sich fast wundert, warum die Mauer nicht schon wesentlich früher gefallen ist.
Rechts daneben ist eine Presseschau vom 10. November 1989 abgedruckt, die ausschließlich den Mauerfall feiert. Nicht zu vergessen, der zynische Einwurf zu den verhältnismäßig wesentlich zurückhaltenderen Berichterstattungen durch gesteuerte „kommunistische“ Medien im Osten.
Boulevard
Die darauf folgenden Seiten sind einfach nur belanglos. Wieder seitenfüllende Werbung, deren Umfang inzwischen so wirkt, als hätte man final noch einmal zeigen wollen, dass der Kapitalismus wirklich gewonnen hat. (Im Folgenden werde ich auch nicht mehr auf Werbung eingehen, insbesondere nicht auf solche, die tolle Rabatte rund um die Zahl 25 anbieten.)
Daneben: Simone und Sophia Thomalla modeln in einer nostalgischen Ostwohnung von ´89. Nullgehalt an Information, aber bestimmt nett anzusehen. Im Text plaudern die beiden hauptsächlich über etwas, was man grob als Lifestyle in der DDR umreißen könnte.
Danach: „Wie Einheit sind Sie?“ Ein Quiz über 50 Fragen, die ich testweise beantwortet habe. Die weite Niveauspanne der Fragen von Namen von DDR-Parfums bis hin zu „Hatten Ostdeutsche tatsächlich mehr Sex als Westdeutsche?“ (Antwortmöglichkeiten „A) Ja, A) Ja, A) Ja“) beinhaltete tatsächlich auch politische Fragen zum Beispiel zum Volksaufstand 1953. Obwohl die Fragen manchmal echt knifflig waren, lässt sich dennoch an Hand des Lösungswortes recht leicht auf die Antworten schließen. Als Gewinn winkt übrigens entweder eine Sammler-Edition des Bildbuches oder ein fast 3 Tonnen schweres Originalstück der Mauer. Mitmachen lohnt sich also!
Auch nicht fehlen dürfen das Fernsehprogramm vom 9.11. und die Musik-Charts von ´89 aus BRD und DDR: Interessantes Fun-Fact: Im Westen sind alle Titel englisch, im Osten alle deutsch. Außerdem wird eine (zugegebenermaßen durchaus lustige) Geschichte eines Bild-Reporters erzählt, der versucht, sein Begrüßungsgeld von damals 100 DM zurückzuzahlen, und dabei alle Behörden verwirrt (und damit wahrscheinlich mehr Aufwand als Ertrag verursacht. Aber egal – lustig!).
Besonders wichtig für jeden Bericht über die DDR sind auch Interviews mit Margot Honecker in Chile. Aber, stopp, sieht auf den ersten Blick mit den abwechselnd fett und normal gedruckten Absätzen aus wie ein Interview, ist aber letztendlich auch wieder nur ein Bericht, in dem auch nicht viel Neues erzählt wird. Der Artikel weckt Mitleid mit der einsam lebenden ehemals mächtigsten Frau der DDR – nun „die letzte Gefangene ihrer DDR.“ Doch, Cliffhanger, nein, irgendwie ist sie das nicht. Dazu später mehr.
Zuerst: Meinungen von Promis! Bono, der Fürst von Monacco, der Dalai Lama und viele andere haben sich dazu hinreißen lassen, etwas in der Richtung „Ich bin voller Bewunderung“ zu sagen, und damit letztendlich irgendwie Bush und Gorbatschow zu wiederholen.
Doch jetzt kommt das Highlight des Boulevards: Ein Comic von Angela Merkel in der Sauna!
Ab da flacht es ab: Top-25-DDR-irgendwas-Listen, Ossis, die untergegangen sind, Ossis, die berühmt geworden sind, noch mehr Top-irgendwas-Listen. Und der (nicht ausgesprochene) Cliffhanger wird aufgelöst: Denn es gibt tatsächlich noch Gefangene der DDR, und eine Bild ohne brutal Kriminelle geht auch nicht. Werner H., dessen Name zwar verändert wurde, aus Sympathiegründen jedoch dennoch hier mehr als 10 mal genannt wird, sitzt immer noch hinter Mauern und hat von der Wende wenig mitbekommen.
Doch etwas Inhalt
Aber auf den letzten Seiten wird es nochmal interessant, denn hier wird etwas über die Rolle des Axel-Springer-Verlags, der auch die Bildzeitung herausgibt, für die Wiedervereinigung berichtet. Denn Verlagsgründer Axel Springer selbst hat in den vier internen Grundsätzen zu Zeiten, in denen das noch eine sehr utopische Vision war, als erstes Ziel „[d]as unbedingte Eintreten für die friedliche Wiederherstellung der Deutschen Einheit in Freiheit“ festgeschrieben. Das ist, neben den heutigen, nur leicht abgewandelten Grundsätzen, die man im Internet finden kann, ein interessantes Faktum, was die Bild hier eher am Rand erwähnt; und sagt viel über das damalige und heutige Selbstverständnis des Verlags aus.
Die letzte Seite
Die letzte Seite ist ein Aufreger. „25 Schlagzeilen, die Bild [dank Mauerfall] erspart geblieben sind“. Andere Medien hätten eine solche Liste „Satire“ genannt und ihre Feindbilder weniger populistisch gesucht, hier läuft das ein bisschen anders. Griechenland führt die Ostmark ein, Gysi wird Staatsratsvorsitzender (103%), „Papi sucht Trabi“ als Kuppelshow mit Inka Bause. Nicht zu vergessen das traditionelle Bild-Girl oben ohne. Natürlich „nicht ganz ernst gemeint… J“. Das kann man lustig oder geschmacklos finden; es polarisiert, und das tut die Bild-Zeitung schon immer.
Fazit?
Was genau hat man da jetzt kostenlos in den Briefkasten bekommen? In erster Linie das, was auch den ganzen 9. November ebenfalls kostenlos im Fernsehen bekommen hat: Seichte Unterhaltung, ein paar Reden zum Thema Freiheit, Meinungen von mehr oder weniger prominenten Menschen, die alle in etwa das Gleiche zum Thema zu sagen hatten, und ein bisschen „Ostalgie“.
Da ist jetzt in erster Linie nichts Verbotenes daran. Und wahrscheinlich verkauft liest sich so etwas auch einfach nicht in hinreichend breiten Teilen der Bevölkerung, wenn man mehr kritische Inhalte bringt, die tatsächlich mehr Denkleistung erfordern und den potentiellen Leser vielleicht sogar vor den Kopf stoßen, indem sie seine Vorurteile und Meinungen angreifen und vielleicht sogar wiederlegen. Oder einfach nur seine Stimmung trüben.
Denn eigentlich, und das gerät komplett in Vergessenheit, ist der 9. November nicht nur der Tag des Mauerfalls, der erste Schritt zu einem geeinten Deutschland. Irgendwo, übertüncht von der Freude dieses Festes, liegen nämlich noch andere bedeutende Ereignisse, die wir als Deutsche auch nicht vergessen sollten: Die Hinrichtung des Parlamentsabgeordneten Robert Blum 1848, die Ausrufung der Republik im Zuge der Novemberrevolution 1918, der Hitler-Ludendorff-Putsch in München 1923 und die Reichspogromnacht 1938. Alles historische Wendepunkte in der deutschen Geschichte, die in der Gesamtheit ebenfalls ein deutsches Selbstbild beeinflussen sollten.
Trotzdem muss ich sagen, war die Bild eine Lektüre wert. Wenn schon nicht wegen des (wahrscheinlich in der Regel von den Autoren unbeabsichtigten) Spaßes beim Lesen, so lohnt sich der Blick alleine um zu sehen, was eine Zeitung schreibt, die man so vielleicht nicht unbedingt lesen würde. Um zu sehen, wie durchaus weite Teile der Bevölkerung ticken, was sich verkauft. Und letztlich also insbesondere auch, um das eigene Weltbild zu kalibrieren.