Was ist gute Literatur?
Oh je, da hat sich mein Unterbewusstsein ja entschieden, sich zu einem komplizierten Thema Gedanken zu machen, beziehungsweise mein Bewusstsein, diese dann auch noch auszuformulieren.
Zuerst mal sollte ich also vorwegnehmen, dass ich auf Grund der Breite des Themas beschlossen habe, absolut keine Quellen zu Rate zu ziehen, sondern einfach meine hoffentlich nicht allzu sprunghaften Gedanken zu Papier zu bringen.
Außerdem will ich mich noch auf fiktionale Literatur beschränken. Gerade bei Fachbüchern sind nämlich recht leicht Kriterien auszumachen, wann sie gut sind: Stimmt der Inhalt, und ist das Buch adäquat und verständlich geschrieben? Über letzteres entscheidet die Zielgruppe der Leser, ersteres ist dann Thema von Diskussionen im jeweiligen Fachgebiet (so dass man sich dann doch bei strittigen Themen der Wissenschaft doch wieder schnell uneinig ist, ob das Buch gut ist oder nicht).
Mir fällt auf, ich sollte noch ein, zwei Begriffe klären, bevor ich anfange: Dass ich mit „Literatur“ im Folgenden nur fiktionale Literatur meine, habe ich ja schon geklärt. Zusätzlich sei noch gesagt, dass sich der Begriff „Buch“, der oben schon synonym für „Literatur“ verwendet wurde, tatsächlich auch auf andere Werke in Textform ausdehnt. So kann ein Zeitungsartikel oder Blogpost genauso gut Literatur sein, wie ein Buch, dass im Folgenden ein quantifizierbares (fiktionales) literarisches Werk sein soll.
Zunächst sollte gesagt werden, dass „Güte“ von Literatur etwas sehr subjektives ist und dass für jeden Menschen andere Bücher „gut“ sind. Wenn jedoch eine hinreichend große Zahl von Lesern ein Buch für „gut“ befindet, sollte meiner Meinung nach auch objektiv von einem „guten Buch“ gesprochen werden dürfen.
Aber was sollte Literatur überhaupt tun? Meiner Meinung nach dreierlei Dinge:
Erstens sollte sie etwas aufzeigen, was jeder1 schon kennt oder weiß, jedoch vergessen, verdrängt oder nie richtig verarbeitet hat. Und das kann eine weite Spanne von Dingen sein: Von Problemen und Freuden in der Jugend und beim Erwachsenwerden über Eigenschaften und Verhalten von Menschen in verschiedenen Situationen bis hin zum Zustand der Gesellschaft im Ganzen. Dieses „Thema“ (bzw. diese „Themen“, sofern mehrere gleichzeitig vorliegen) ist der Kern eines Buches. Der Leser setzt sich mit dem Thema auseinander, verarbeitet es und wird zu einer Erkenntnis oder Einsicht gebracht, je nach Genre des Buches auf unterschiedlichen Ebenen. Hat ein Buch so ein Thema nicht oder nur in extrem schwacher Ausprägung, ist es im Ganzen trivial und keine gute Literatur. Man denke hier an Mario Barth2: Lustig und alles, nur irgendwo fehlt mir als Rezipient der Inhalt. „Lustig und alles“ leitet perfekt über:
Zweitens nämlich erzählt Literatur Geschichten. In der Regel, um das Thema zu entwickeln und dem Leser nahezubringen, indem sie Protagonisten, Antagonisten und andere Figuren in origineller Weise miteinander interagieren lässt: die „Handlung“. Und hier wird es interessant: Als Autor hat man nämlich die Möglichkeit, seine Handlung und Figuren eben nicht in der Lebenswelt des Lesers spielen zu lassen, sondern in einer (fast) beliebigen anderen, von Polizeialltag in Krimis über fremde Kulturen bis hin zu komplett anderen Welten in Science Fiction oder Fantasy. Das stellt den Autor als Konzeptentwickler solcher eher fremden Lebenswelten vor eine besondere Herausforderung: Einerseits muss er nämlich für diese Welt ein mehr oder weniger geschlossenes und vor allem konsistentes Weltbild entwickeln, das auch weitestgehend bereits bekannten Tatsachen entspricht3, und den Leser in dieses einführen, ohne ihn durch zu viel Fremdes zu überfordern – schließlich hat jeder einen „Erwartungskreis“, eine Reihe von Erwartungen, die zumindest am Anfang in Teilen angesprochen werden sollten, damit der Leser das Interesse nicht verliert. Andererseits muss er es nun schaffen, den Rückbezug zum Thema, das ja weiterhin in der Lebenswelt des Lesers verbleibt, auf halbwegs plausible Weise aufrecht zu erhalten. All das wird umso schwerer, je fremder die entsprechende Welt ist. Dafür ist der zu erwartende Gewinn auch größer: Ziel ist schließlich, den Leser in Bezug auf das Thema zu einer Erkenntnis zu bringen. Schon Brecht wusste, dass Verfremdungseffekte dem Rezipienten ermöglichen, Abstand zu dem Thema zu gewinnen und sich losgelöster von eigenen Vorurteilen und der persönlichen Situation mit ihm auseinanderzusetzen. Außerdem, so glaube ich, verstärkt die größere erforderliche (und erzwungene) Denkleistung beim Übertragen des Themas von der Handlungswelt des Buches in die eigene Lebenswelt die Erkenntnis deutlich.
Drittens muss gute Literatur auch gut geschrieben sein: Die beste Handlung und das beste Thema nützen relativ wenig, wenn das Buch einfach schlecht geschrieben ist. Auch hier gilt: sehr subjektiver Aspekt. Zusätzlich sollte noch darauf geachtet werden, dass die Sprache zu der Handlung passt: Autoren, deren Bücher in der NS-Zeit spielen, sollten sich zum Beispiel zweimal überlegen, ob sie wirklich ständig Witze darüber reißen sollten. Umgekehrt wäre auch ein Goethe ohne die typische Sprache Goethes, oder ein Shakespeare ohne sein typisches Englisch eher unspannend. Das Thema des Buches bleibt davon übrigens unberührt, schließlich ist es universell. So ist zum Beispiel ein Buch über Kapitalismuskritik zweifellos auch als Komödie möglich, siehe die „Känguru Chroniken“ von Marc-Uwe Kling. Mit der Sprache erhält der Autor eine wichtige und mächtige Möglichkeit, mit komplizierten Konstrukten, sprachlichen Bildern oder einfach nur Wortgewalt über die Handlung die Erkenntnis des Themas verstärken. So schafft es David Mitchells „Number 9 Dream“ allein durch unzählige kleine Eindrücke und gewaltige Bilder, den Leser innerlich so zu zerstören, dass er Platz für die geforderte Erkenntnis hat.
Was ist also jetzt gute Literatur? Im Idealfall das hier: Ein Buch, dass gut geschrieben und mit raffinierter Sprache eine Handlung zeichnet, die den Leser zu einer Erkenntnis bringt. Und das ist die Herausforderung eines jeden Autors.
P.S.: An dieser Stelle sei auch die neue Bücherkiste empfohlen, in der ich über das erwähnte Buch „Number 9 Dream“ schreibe, das die drei Elemente in sehr schöner Form aufweist.