David Mitchell: Number 9 Dream

„Die Sache ist ganz einfach. Ich kenne Ihren Namen, und Sie haben einmal meinen gekannt: Eiji Miyake. Wir sind beide vielbeschäftigte Leute, Frau Kato, also lassen wir den Smalltalk. Ich bin in Tokio, um meinen Vater zu finden. Sie kennen seinen Namen, Sie kennen seine Adresse. Und Sie werden mir beides geben. Jetzt.“

Die Idee hinter der Handlung ist in der Tat denkbar einfach: Der 19-jährige Eiji Miyake ist aus einer ländlichen Provinz Japans nach Tokio gekommen, um dort nach seinem Vater zu suchen, den er nie kennenlernen durfte. Was er dort erlebt, ist Inhalt dieses vor Handlungsdetails und kleinen Geschichten  nur so strotzenden Romans.

Denn den Anwalt seines Vaters so einfach wie geplant zu fragen, erweist sich als unmöglich. Wochenlang auf eigene Faust in Tokio über die Runden zu kommen als auch nicht so trivial. Und die Drohbriefe von der Ehefrau seines Vaters, der damals mit Eijis Mutter eine Affäre hatte, machen die Situation auch nicht viel einfacher. Trotzdem hält er an dem Ziel fest, seinen Vater zu treffen, koste es, was es wolle.

Doch David Mitchell wäre nicht David Mitchell, der Autor von Cloud Atlas, wenn sein Werk damit aufhören würde. In den insgesamt 9 Kapiteln des Buches, wird immer auch eine alternative Realität in die Handlung mit eingewebt: Montageartig, aber ohne unverständlich zu werden, und ohne Realität von Gedanken und Erinnerungen zu trennen, werden Tagträume, Kindheitserinnerungen und sogar Kinofilme und Kinderbücher in die zugegebenermaßen manchmal doch recht wilde Gegenwart des Ich-Erzählers projiziert. Als nichts ahnende Leser treibt uns der Autor soweit, die etwas irritierende Geschichte als Realität anzunehmen, nur um uns einen Absatz später vor Augen zu führen, dass das gerade Erzählte reine Fiktion des Protagonisten ist. Man fragt sich als Leser „Ist das jetzt Metapher oder tatsächlich real?“ und stellt oft genug Seiten später fest: beides. Mit den so aufgebauten und dann wieder zerstörten riesigen sprachlichen Bildern wühlt der Roman den Leser innerlich auf, zerstört seinen Glauben und sein Weltbild und regt ihn zum Denken an.

Und hier liegt die Stärke dieses Romans: Die großen Bilder, die tiefe Einblicke in Gefühle, Träume und Erwartungen des Protagonisten an sich selbst und andere (insbesondere seinen Vater) geben, und die kleinen Geschichten aus dem Alltagsleben der Tokioter,  die er nur so nebenbei erzählt, interpretiert und bewertet, verschaffen dem Roman und seinen handelnden Figuren eine ungeheure Tiefe.

Denn letztendlich erzählt der Autor hier nicht die Geschichte eines Jungen, der seinen Vater sucht. David Mitchell erzählt eine Geschichte über Selbstfindung. Über entwurzelt werden und nach Hause kommen. Über mit der Vergangenheit abschließen und in eine ungewisse Zukunft aufbrechen.


Zum Buch: „Number 9 Dream“ von David Mitchell, aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Roman. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Taschenbuch, 544 Seiten. ISBN: 3499252384


Titelbild: themonnie (CC BY-SA 2.0)
Ebenfalls erschienen im Neologismus 14-10

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