Weniger Demokratie wagen?
Fragen und Gedanken zum richtigen Maß an DemokratieIn den Nachrichten hört man, wenn es um umstrittene politische Entscheidungen geht, immer wieder zwei Sätze:
„Politiker X muss sich so entscheiden, denn das wollen seine Wähler.“
Oder:
„Jetzt, wo Politiker Y weiß, dass er nicht mehr wiedergewählt wird, kann er Entscheidungen zum Wohle des Landes und nicht zum Wohle der Wähler treffen.“
Diese zwei Sätze werfen einige nicht triviale Fragen auf: Wie demokratisch sind unsere Demokratien, wie können Politiker richtige Entscheidungen treffen und was ist so eine „richtige Entscheidung“ überhaupt?
Zum Zweck des politischen Systems
Nach der Auffassung der alten Staatstheoretiker wie John Locke, die bis heute zu großen Teilen gültig ist, wird ein Staat von seinen Bürgern geschaffen, mit dem Zweck, ihre Sicherheit, Freiheit und Eigentum zu schützen und das öffentliche Wohl zu wahren. Von Beginn an ergibt sich damit das Problem, Entscheidungen zu treffen, die von allen getragen werden und zum Erreichen dieses Ziels dienen.
Um dieses Ziel genauer zu definieren, wurde bereits im antiken Griechenland der Begriff des Gemeinwohls geprägt. Damit ist ein Maß für das Wohl der gesamten Gesellschaft, eingeschlossen das Wohlergehen jedes einzelnen, gemeint. Das Ziel jedes Staates ist damit das Vermehren des Gemeinwohls. Aus diesem großen Ziel lassen sich Teilziele ableiten, die wir als Ziele politischer Handlungen sehen werden.
Eine politische Handlung ist damit eine Änderung an der Gesellschaft mit dem Ziel, in irgendeiner Weise das Gemeinwohl zu vermehren. Jede dieser Handlungen hat verschiedene Folgen, die sich positiv oder negativ auf das Gemeinwohl auswirken können.
Das Hauptproblem bleibt daher: Wie bestimmen wir das Gemeinwohl? Welche Faktoren sind dafür relevant? In wie fern sind die Folgern verschiedener Handlungsmöglichkeiten als positiv oder negativ zu bewerten? Und in letzter Konsequenz: Welche politischen Handlungsmöglichkeiten sollten wir wählen?
Diktatur oder Direkte Demokratie?
Verschiedene Politische Systeme haben unterschiedliche Herangehensweisen zur Lösung dieses Problems. Der wohl einfachste Lösungsansatz ist die Beauftragung und Bemächtigung einer einzelnen Person oder einer Gruppe von Personen mit der Definition der politischen Ziele und Handlungen und ihrer Umsetzung. Im Optimalfall sollten diese Personen die nötigen Kenntnisse und Erfahrungen haben, um diese Aufgaben zu erfüllen. Bei einer solchen Staatsform spricht man allgemein von einer Diktatur – wenngleich es sich bei den Herrschenden um Experten handelt.
Wie auch die deutsche Geschichte hinlänglich gezeigt hat, ergeben sich dadurch einige Probleme. Das wohl größte liegt in der Machtkontrolle: Es wird sich wohl kaum ein Mensch finden, der eine solche Macht nicht für Eigeninteressen missbrauchen würde. Daher ist eine wirksam Kontrolle durch andere Bürger, die mit von den Entscheidungen betroffen sind, nötig.
Das zweite Problem liegt im eingeschränkten Wissen der Regierenden: Selbst der beste Experte kann nur auf einem begrenzten Fachgebiet Experte sein und wird wohl kaum das für politische Entscheidungen nötige Wissen über andere Themenbereiche haben. Zudem kann er niemals einen Überblick über die Lebensrealitäten aller Bürger in der Gesellschaft haben. Daher kann man davon ausgehen, dass seine Einschätzung des Gemeinwohls und damit in letzter Folge auch seine politischen Handlungen realitätsfern werden.
Wäre das Gemeinwohl eine objektiv definierbare Größe, könnte man sich politische Systeme vorstellen, die die Probleme der Machtkontrolle und des beschränkten Wissens der Politiker sehr einfach lösen. So wäre zum Beispiel eine Regierung aus turnusmäßig wechselnden Experten möglich, die sich untereinander nicht absprechen dürfen.
Leider ist das Gemeinwohl aber nicht objektiv definierbar, sondern hängt (auch) von individuellen Wertevorstellungen und Lebensrealitäten ab, womit das Problem der realitätsfernen Politik weiterhin besteht. Zudem kann, wie oben schon angedeutet, die Auswahl einer politischen Handlung zum Erreichen der gesetzten Ziele in der Praxis nicht eindeutig getroffen werden.
Ein System, das diese Probleme umgeht, ist die vollständig direkte Demokratie, die den Willen einer Mehrheit von Bürgern als Maßstab zur Auffassung des Gemeinwohls und der politischen Handlungsziele und -methoden nimmt. Je nach Umsetzung würden dabei alle Bürger zu jeder anstehenden Entscheidung befragt. Doch auch diese Form der politischen Entscheidungsfindung ist mit Problemen verbunden:
Einerseits ist durch die Komplexität der politischen Themen eine fundierte Meinungsbildung nur mit umfangreichem Vorwissen und nach einer entsprechenden Einarbeitung möglich, die für die meisten Bürger nicht machbar ist. Sie enthalten sich bei der Abstimmung oder fällen ihre Entscheidung ohne Kenntnis aller zu berücksichtigenden Einflüsse, was in beiden Fällen nicht dem Zweck des politischen Systems dient. Insbesondere die Meinungsbildung ohne fundiertes Hintergrundwissen macht außerdem anfällig für Demagogie (Volksverführung). Es gewinnt bei einer Abstimmung somit nicht unbedingt das beste Argument, sondern der beste Redner.
Zum anderen stimmen die meisten Menschen bei solchen Entscheidungen nach ihren individuellen, egoistischen Bedürfnissen ab. Den resultierenden Entscheidungen fehlt es damit an „politischer Weitsicht“ auf das umfassende Gemeinwohl und die zukünftigen Notwendigkeiten.
Gewaltenteilung und institutionalisierte Entscheidungsprozesse
Um die Probleme beider Systeme gering zu halten, hat sich heute unter anderem auch in Deutschland ein „Zwischending“ etabliert. Die Idee hierzulande ist, von der Allgemeinheit über den Wählerwillen in einem Mehrheitsentscheid die politischen Ziele und Methoden bestimmen zu lassen. Die darauf folgende Extraktion und Umsetzung von politischen Handlungen obliegt dann wiederum Experten.
Wie funktioniert die Entscheidungsfindung in einem solchen System jetzt genau? Zunächst einmal existieren neben dem Wählerwillen auch noch allgemeine Werte. Diese sind, wie zum Beispiel das Recht auf Eigentum, in weiten Teilen historisch gewachsen und durchaus regional unterschiedlich.
Aus diesen beiden Voraussetzungen (Wählerwillen und Werten) ergeben sich nun zwei Dinge. Zum einen Handlungsmaximen, die unseren grundlegenden Anspruch an Handlungen definieren und so bestimmen, was wir keinesfalls tun dürfen. So zeigt sich eine solche zum Beispiel in dem in Europa anerkannten Verbot der Todesstrafe: Egal, wie schlimm das Verbrechen ist, einen Menschen umzubringen ist per se als Handlungsalternative ausgeschlossen.
Zum anderen ergibt sich aus Werten und dem Wählerwillen eine Vorstellung vom Gemeinwohl und insbesondere auch konkreten Handlungszielen.
Die Auswahl einer politischen Handlung erfolgt dann abstrakt gesehen so: Man betrachtet die Menge der möglichen Handlungen. Dieser wird zunächst nach unseren Handlungsmaximen gefiltert. Dann werden Handlungen ausgewählt, die zu unseren Zielen passen. Eine Handlung, die der Zielerreichung am effektivsten und effizientesten dient und dabei die wenigsten unerwünschten Nebenwirkungen hat, wird dann letztendlich umgesetzt. Dabei ist die Bewertung, was genau effektiv und effizient ist, und wie stark Nebenwirkungen einbezogen werden müssen, ebenfalls abhängig von Wählerwillen.
Erneut stellen wir also fest: Wären politische Handlungen wirklich „alternativlos“, wäre im politischen System tatsächlich nur eine Exekutive ohne Entscheidungskompetenzen nötig. Da aber gerade der oben beschriebene Prozess nicht nur in der Praxis sehr komplex ist, sondern sich letztendlich auch eine Vielzahl von Handlungsoptionen mit unterschiedlichen Folgen ergeben, ist der Handlungsspielraum für eine reine Exekutive wesentlich größer und muss durch eine Legislative mit Entscheidungskompetenzen eingegrenzt werden, um Missbrauch zu verhindern.
Folgerungen
Aus all dem kann man jetzt zwei Dinge folgern. Zum einen stellt man fest, dass weniger Demokratie schlecht ist. Fehlende Machtkontrolle birgt das Risiko, in eine Diktatur abzudriften. Außerdem ist das Gemeinwohl eben keine eindeutige Sache – alle sind betroffen, und so müssen auch alle irgendwie darüber entscheiden können.
Mehr Demokratie ist allerdings eben auch schlecht: Zu großer Aufwand bei der Einarbeitung in komplexe Sachverhalte und fehlende Weitsicht führen in einer zu direkte Demokratie zu nicht optimalen politischen Entscheidungen – von den praktischen Problemen bei der Umsetzung mal abgesehen.
Unser aktuelles repräsentatives System ist also eigentlich zur politischen Entscheidungsfindung ganz gut geeignet. Dennoch haben wir heute mit diesem System ein paar Probleme:
Zuerst einmal werden Werte und Ziele von der Politik nicht mehr kommuniziert. Dieses „Nicht Festlegen“ geschieht, um von allen Bevölkerungsschichten wählbar zu bleiben. Trotzdem sind gerade diese Werte und Ziele so existenziell wichtig zur Auswahl von Handlungen und zur allgemeinen Meinungsbildung.
Dann wird oft blind und opportunistisch einem geglaubten Volkswillen gefolgt. Auch hier will man es möglichst vielen Menschen recht machen, um wiedergewählt zu werden, was allerdings die oben erwähnten Risiken einer direkten Demokratie mit sich bringt.
Im Widerspruch dazu steht, dass politische Entscheidungen häufig intransparent und sogar über das Volk hinweg getroffen werden. Wenn sie nicht direkt im Geheimen getroffen werden, wie zum Beispiel aktuell Handelsverträge wie TTIP, so werden Handlungen oft genug als „alternativlos“ dargestellt, was nicht nur die oben angesprochenen Nachteile einer Diktatur mit sich bringt, sondern auch eine für eine Demokratie feindliche Politikverdrossenheit.
Fazit
Abschließend stellen wir also fest, dass mehr Transparenz und mehr Information über Politik im Allgemeinen notwendig sind. Werte und Ziele unserer Politiker sind heute in der Regel schwammig und werden nicht kommuniziert. Politische Maßnahmen sind zu oft geheim, und deren Folgen dementsprechend unklar.
Daher ist es die Pflicht der Politik, eben solche Informationen über die zugrundeliegenden Werte und Ziele, über Maßnahmen und ihre Folgen klar und umfänglich zur freien Verfügung zu stellen und politische Alternativen anzubieten.
Genauso ist es aber auch die Pflicht der Wähler, die Pflicht jedes Bürgers, sich soweit wie möglich zu politischen Themen zu informieren.