„Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben“

Ein Plädoyer für humanistische Bildung

Anfang Januar sorgte ein Tweet von einer Schülerin aus Köln für einen Aufschrei im Internet:

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“

Die siebzehnjährige Naina aus Köln macht ihrer Unmut über das Bildungssystem Luft, und die Kurznachricht der Zwölftklässlerin wird in kurzer Zeit über 15.000 Mal retweetet und weiterverbreitet. Insbesondere Schüler schließen sich Nainas Meinung an, der Philologenverband widerspricht harsch, die Schuldirektorin nennt die Äußerung „dumm und fahrlässig“. Dennoch: Schüler fühlen sich von der Schule nicht auf das Leben vorbereitet.

An dieser Stelle würde ich gerne fragen, ob man so etwas von Schule, insbesondere von Gymnasien (wie das, das Naina besucht), überhaupt erwarten kann und darf. Liest man beispielsweise die Wikipedia-Definition von Gymnasium steht da, es handle sich um eine Schule, die „zur Hochschulreife führt“. Hält man sich an diesen sehr formalen Ansatz, muss man die oben gestellte Frage definitiv mit „Nein“ beantworten. Um allgemein jedes Fach studieren zu können, brauche ich eben nicht spezielles Wissen zu Steuern und Ähnlichem, sondern muss in der Lage sein, mir selbstständig Wissen anzueignen und wissenschaftliche Texte nicht nur zu verstehen, sondern auch kritisch zu hinterfragen.

Jetzt kann man zu Recht argumentieren, dass das Gymnasium längst nicht mehr nur für die Schüler ist, die studieren wollen. Doch selbst dann hat es meiner Meinung nach eine wichtige Hauptaufgabe: Die Schüler sollen weitestgehend ihre Persönlichkeit zu entfalten lernen und zu mündigen Bürgern in unserer Demokratie erzogen werden. Das ist etwas, was ich – der ich mein Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium erlangt habe – gefühlt als „humanistische Bildung“ bezeichnen würde.

Einer meiner Lehrer hat auf einem Vorstellungstag der Schule für die Eltern werdender Fünftklässler auf die Frage, ob es denn auch irgendwelche „praktischen“ Fächer gebe, die auch in die Richtung von Nainas Tweet ging, sinngemäß das folgende geantwortet: „Und danach führen wir das Fach Kofferpacken ein, weil man das ja auch ständig braucht.“ Solche Dinge, da stimme ich meinem Lehrer zu, sind in erster Linie zum Beispiel Aufgabe der Familie, nicht des Gymnasiums. Aufgabe eines Gymnasiums ist es viel mehr der allgemeinere Ansatz. Ich lerne, wie ich mir zu bestimmten Themen verlässliche Informationen aneigne. Und eben, wie gesagt, wie ich politisch mündiger Teil der Gesellschaft werde. Ich lerne nicht, wie ich eine Steuererklärung schreibe, was sich sowieso jedes Jahr im Detail ändert, ich lerne, wie ich mich an diesen feinen politischen Änderungen aktiv beteiligen kann, sodass es gute sind. Ich lerne Geschichte, um die Fehler vergangener Generationen zu verstehen und nicht nochmal machen zu müssen. Ich lerne Fremdsprachen, um mich mit anderen Kulturen nicht nur sprachlich, sondern auch menschlich verständigen zu können. Ich lerne in Deutsch, wie ich mich kritisch mit Texten auseinandersetze, wie ich die Meinung des Autors aus dem Text herausziehen kann und wie ich meine eigene (dazu) auf verständliche Weise darlegen kann. Und ich übe das (was ich im Übrigen nicht nur brauche, wenn ich politisch aktiv werden will) an den schwersten, kompliziertesten und verschwurbelsten Texten überhaupt: Gedichten, in der Regel unverständlicher als die Rede eines durchschnittlichen Politikers.

Von daher: Hey, ich kann eine Gedichtsanalyse schreiben! Gut, ich persönlich nur in 2 Sprachen, aber immerhin! Den Rest zu lernen ist da verhältnismäßig sehr einfach.


Ebenfalls erschienen im Neologismus 15-01
Darin auch eine Antwort von Florian Kranhold

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