Abschied eines Altkanzlers
Ich muss gestehen, ich bin ein Kind der Kanzlerschaft Merkels. Natürlich wurde ich schon unter Kohl geboren und bin zu Zeiten Schröders zur Grundschule gegangen, aber wer interessiert sich schon als unter 10-jähriger wirklich für Politik?
Von Schröders Kanzlerschaft erinnere ich mich tatsächlich nur noch an eine grauenhafte Radio-Parodie auf die Meolodie des Ketchup-Songs („Aserejé ja deje“, besser bekannt als „I said a He, Ha, Hehe!“) mit dem vollmundigen Text „Ich erhöh’ euch die Steuern / gewählt ist gewählt, ihr könnt mich jetzt nicht mehr feuern…“. Blickt man heute auf diesen Altkanzler zurück, steht sein Werk in zweifelhaftem Licht. Irgendwie ist keiner in der SPD wirklich mit Hartz IV oder der Agenda 2010 zufrieden, die zwar nicht so sozial waren, wie es der Parteiname vermuten lässt, aber Deutschland immerhin souverän durch die Wirtschaftskrise ab 2010 gebracht haben. Außerdem arbeitet er jetzt bei dem russischen Energieversorger Gazprom – ein Untertan Putins, das geht ja wohl mal gar nicht!
Ordentliche Altkanzler bei uns werden moralische Instanz und Herausgeber einer politisch unabhängigen Wochenzeitung! Dann werden sie gefeiert und dürfen trotz Rauchverbot noch Jahre später im öffentlich-rechtlichen Fernsehen qualmen. Wie Helmut Schmidt.
Ich weiß, dass Florian, unser Chefredakteur beim Neologismus, den Mann verehrt für seine Art, politische Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, sein wirtschaftliches Fachwissen. Vielleicht auch, wie es nicht nur ein Nachruf geschildert hat, weil er der bislang einzige Bundeskanzler war, den man einen „Intellektuellen“ nennen kann.
Aber ich glaube auch, das Geschichte an dieser Stelle viel zu schnell romantisiert. Das hat sicher einerseits damit zu tun, dass nach einer gewissen Zeit kurzfristige Fehler vergessen sind und gleichzeitig die langfristig positiven Auswirkungen von Entscheidungen eintreten. Andererseits ist auch das politische System selbst daran Schuld. Eine Mehrheit muss ja irgendwann mal für die Partei eines Kanzlers gestimmt haben und verdrängt vielleicht auf Grund einer (unterbewussten) indirekten Mitschuld längerfristig schlechte Folgen getroffener Entscheidungen. Und zu guter letzt werden auch die Nachfolger eines Kanzlers sich nicht unbedingt schlecht mit diesem stellen wollen, hat er doch auch nach seiner Amtszeit noch Einfluss auf das politische Geschehen.
Dennoch bleibt Helmut Schmidt ein besonderer Kanzler. Er hat den Krieg und den Wiederaufbau bereits als erwachsener Mann erlebt – eine Eigenschaft, die so nach ihm kein Bundeskanzler mehr hatte. Das verlieh seiner politischen Motivation noch ein ganz anderes Gewicht als jenen Politikern, die zu Zeiten von Grundgesetz und Europäischer Union aufgewachsen sind.
Man sagt, mit seinem Tod sei ein wahrer Staatsmann gegangen. Wikipedia definiert einen Staatsmann als „einen Politiker in hohen staatlichen Ämtern, […] der nach Auffassung der öffentlichen Meinung etwas geleistet hat, das über alltägliche Politik hinausgeht“. Und obwohl die öffentliche Meinung etwas ist, worüber man in der Regel trefflich streiten kann, tut das bei Helmut Schmidt heute niemand mehr.
Zeitsprung
Es ist inzwischen Anfang Dezember. Die Dokumentationen über Schmidts Leben wurden gezeigt, der Staatsakt hat stattgefunden. Es kam der Terror in Paris und jetzt, ganz neu in Planung, der Einsatz der Bundeswehr in und um Syrien. Beim Schauen der Nachrichten habe ich mich selbst bei der Frage ertappt „Was hätte Helmut Schmidt getan?“ Die Antwort ist, dass ich es nicht weiß. Und dass ich es wahrscheinlich auch nie wissen werde. Ich kann sowas sagen wie „Ah, NATO-Doppelbeschluss!“ und „Ah, Einsatz der Bundeswehr im Inneren!“, denn ich habe grob mitbekommen, das hat er gemacht – in der Zeit umstritten, aber rückblickend offensichtlich positiv.
Ich hoffe, man kann irgendwann auch auf die jetzige Zeit zurückblicken und sagen, „es wurde im Großen und Ganzen alles richtig gemacht“. In einer scheinbar immer unsichereren Welt wie der unseren, geprägt von Griechenland-Krisen, Flüchtlings-Krisen und Terrorismus-Krisen, wäre das wünschenswert.
Schmidt selbst wird künftig nicht mehr seine Meinung zu solchen Themen abgeben können, so gerne (oder ungerne) wir sie vielleicht hören würden. Doch ich glaube, er hat sich den Ruhestand reichlich verdient.