Der stille Aufstand

Arbeitstitel: Warum die Anständigen schweigen

Eigentlich sollte dieser Artikel anders werden. Er sollte den Titel tragen „Warum die Anständigen schweigen“. Die Idee zu diesem Artikel stammt von einem Zeitpunkt, da war der Kommentar von Anja Reschke in der ARD zum „Aufstand der Anständigen“ erst ein paar Wochen alt. Schon im Jahr 2000 hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach einem Brandanschlag auf eine Synagoge unter diesem Titel in einer Rede eine Reaktion der Zivilgesellschaft gegen Rechts gefordert. Heute brennen nicht Synagogen, sondern Flüchtlingsunterkünfte.

2000 war ich noch zu jung, um das wirklich mitzubekommen; dafür treffen mich die Bilder von ausgebrannten Flüchtlingsunterkünften heute umso heftiger. Ein kleiner Teil der Bevölkerung scheint das jedoch anders zu sehen. Das sind dann die Menschen, die in Heidenau und anderswo gegen Flüchtlinge demonstrieren. Ich empfehle, sich einmal dieses Video einer „besorgten Bürgerin“, einer „Asylkritikerin“ anzusehen. Auch das erschreckt. Natürlich weiß ich, dass nicht alle so sind. Doch wie Frau Reschke in ihrem Kommentar so treffend feststellt: Sie werden mutiger, öffentlicher und man müsste ihnen lauter widersprechen. Ich habe mich also vor zwei Wochen gefragt: Wo bleibt er denn, der Aufstand der Zivilgesellschaft? Und ich habe überlegt, warum er nicht kommt.

Ein Hauptproblem, das ich sehe, ist: Niemand will die Flüchtlinge wirklich haben. Natürlich nehmen wir hier in Deutschland verglichen zum Rest Europas sehr viele Flüchtlinge auf, die nach dem Dublin-Abkommen eigentlich auf dem Weg hierher schon längst in Griechenland, Ungarn oder Österreich hätten bleiben sollen. Also stoßen wir eine Debatte über „gerechte Verteilung“ der Flüchtlinge in Europa an – eine Quote oder Ähnliches. Aber wenn wir ehrlich sind, wird diese Debatte von unserer Regierung nur forciert, weil wir im Falle der propagierten Quote weniger Menschen aufnehmen müssten. Wir würden sie in einer anderen Situation wohl eher nicht führen wollen. Damit will ich nicht sagen, dass diese Debatte unwichtig oder falsch ist (denn das ist sie sicher nicht), aber sie transportiert die unterschwellige Aussage: Grundsätzlich wollen wir weniger Flüchtlinge aufnehmen.

Flüchtlinge sind ja auch ein finanzielles Problem. Ihre Unterbringung und Verpflegung kostet. Die Kommunen sagen, die Länder müssten sie finanziell stärker unterstützen; die wiederum fordern mehr Geld vom Bund. Da sind andere Ideen günstiger: Abschreckung vor der Reise hierher schon im Heimatland und schnelle Abschiebung zum Beispiel für „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus dem Balkan; oder schlicht das physische Aufhalten von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU. Tendenziell „rechte“ Ideen.

Letztendlich lebt die Politik der Bevölkerung das Problem vor und zeigt zusätzlich Handlungsunfähigkeit und Hilflosigkeit. Die „Anständigen“ sehen die Politik auf allen Ebenen versagen – und wenn die schon nichts tun können, was soll ich dann erst machen?

Die Nachrichten verstärken dieses Bild. Nachrichtensendungen beschäftigen sich neben dem Wetter fast vollständig mit dem Flüchtlingsthema und zeigen die Bilder von Flüchtlingswellen, die nach Europa rollen. Überforderung überall, das Militär unterstützt übergangsweise. Das ZDF zeigt im heute journal einen Reporter, der irgendwie mit den Flüchtlingen aus Serbien über Bahngleise nach Ungarn gelaufen ist, wo die Polizei die Menschen aufgegriffen hat, die nicht schon vorher in den teuren Bus von windigen Schleppern gestiegen sind, der auch gezeigt wurde. Auch diese Bilder verängstigen; niemand will das hier in Deutschland haben. Natürlich werden auch „Heldentaten“ gezeigt, wo einzelne Menschen Flüchtlinge aufnehmen. Allerdings überwiegt das Gefühl, dass das bei dem Ansturm nicht auf Dauer funktionieren kann. Das Gefühl der Hilflosigkeit lähmt.

Da hilft es auch nicht, auf Facebook ein einfaches „Refugees Welcome“ zu posten, ohne danach wirklich etwas zu tun. Das ist in etwa das digitale Äquivalent zu „Ich schicke eine Postkarte nach Heidenau, auf denen ich den Flüchtlingen liebe Grüße ausrichte“, während direkt vor der Unterkunft der Adressaten die „Asylkritiker“ stehen. Das weiß der Anständige, der nicht die Zeit oder den Mut oder das Geld hat, tatkräftig oder finanziell zu helfen, oder sich zwischen Flüchtlingsunterkunft und Aufmarsch der Asylkritiker zu stellen. Also schweigt er. Vielleicht denkt er sich auch, das sei Aufgabe der Politik, schließlich habe er die für genau solche Aufgaben gewählt. Wer jedoch nicht schweigt, sind die überzeugten Rechten. Und so kippt die politische Meinung nach rechts. Erich Kästner hat 1931 „Fabian“, seinen einzigen Roman für Erwachsene, veröffentlicht. In ihm beobachtet der Protagonist, den schon der Untertitel als „Moralisten“ bezeichnet, den „Tanz auf dem Vulkan“, den Zerfall der Weimarer Republik. Er erkennt das unmoralische in jeder Szene, die er durch das wilde Berlin reist, und kann doch nichts tun. Sein einziger Ausweg ist die Flucht in die Berge – eine metaphorische Darstellung für den Rückzug ins Private, die „innere Emigration“, die neben Kästner auch weitere Künstler in der darauf folgenden Zeit des Dritten Reichs vollzogen.

Eine Frage, die ich mit Blick auf diesen Roman stellen möchte: Ergeht es uns gerade so ähnlich? Sind wir auch Moralisten, denen die Hände gebunden sind? Das lässt sich natürlich erst in der Retrospektive erkennen. Allerdings ist es ein sehr bequemes Bild: Ich bin der Moralist, auf der richtigen Seite, aber leider machtlos. Ich kann gar nichts ändern, und bin auch von den negativen Aspekten zu wenig betroffen, um das wirklich zu wollen. Eine Frau aus Freital hat in einem Interview auf die Frage, ob es nicht schlimm wäre, dass da Steine auf Menschen geworfen werden, recht treffend geantwortet: „Die werfen ja nicht auf Deutsche.“ Alles andere ist bedauerlich, aber immerhin bin ich sicher.

Aus dem Netz hört man die Forderung an Politik und Medien: „Nennt sie Nazis!“ Die Asylkritiker und besorgten Bürger. Alle. Aber wie Don Alphonso im Blog Deus ex Machina bei der FAZ feststellt: Das hilft nicht unbedingt. Denn „[w]ann immer man auf solche Leute trifft, geht es um das Gute, das Richtige, und allenfalls um bedauerliche Notwendigkeiten. Wenn Leute sagen, sie sind kein Nazi, aber – dann meinen sie das so, und keine pauschale Verurteilung wird sie vom Gegenteil überzeugen.“ Er berichtet unter anderem von der Erfahrung aus Ungarn, wo an der Wahl der rechten Regierung sicher nicht die Medien Schuld sind, die die Partei im Wahlkampf als einen Tick zu wenig rechts dargestellt hat. Auch in Österreich mit der FPÖ oder Frankreich mit der Front National kritisieren Medien den Rechtspopulismus, der aber davon unbeeindruckt immer mehr Stimmen gewinnen kann. Sein Fazit: Menschen pauschal als Nazis zu beschimpfen, hilft nicht und beendet einfach nur eine vielleicht sogar konstruktive Diskussion.

Aber das stimmt nur teilweise. Ich bin davon überzeugt, dass Vorbilder der Menschen etwas bewegen können. Politiker und Medien sind das nicht mehr. Aber Prominente können die Menschen noch wachrütteln, auch wenn das zu heftigem Widerstand der radikaleren Teile der „Asylkritiker“ führt. Wer in seinem Weltbild noch nicht vollends festgefahren ist, wird seine Position dann zumindest nochmal überdenken. Yoko und Klaas sind da ein gutes Beispiel mit dem Video an ihre Fans. Til Schweiger geht sogar noch weiter und hilft zusätzlich zu seinem öffentlichen Auftreten mit dem Bau einer Unterkunft.

Und neben diesen Promis brauchen wir auch die viel beschworene „Mitte der Gesellschaft“, die sich zum Grundgesetz und zu einer Willkommenskultur für Flüchtlinge bekennt. Vor zwei Wochen dachte ich noch, so etwas würde noch nicht wirklich bestehen. Klar, es gab (und gibt immer noch) auch außerordentlich gute Aktionen. Mir ist da im Internet Blogger Für Flüchtlinge über den Weg gelaufen. Aber mehr war damals nicht zu erkennen. Doch inzwischen habe ich gesehen, dass eine Reaktion auf die rechten Äußerungen in Heidenau, Freital und anderswo anläuft. Menschen spenden Kleidung und Geld für Flüchtlinge. Am Wochenende habe ich in einer katholischen Kirche eine Ausstellung und ein klares Bekenntnis zu Gastfreundschaft gegenüber Flüchtlingen gesehen – ein starkes Zeichen, wo in christlichen Kreisen oft auch die Angst vor der fremden Religion Islam grassiert. Eine Reaktion beginnt. Sie ist vielleicht nicht so laut wie die der Asylkritiker, aber weit effektiver.

Was kann man also tun? Man kann ganz grundsätzlich Interesse am Thema zeigen – sachlich, mehr als „Refugees Welcome“ auf Facebook. Nachfragen, Politikern Post schicken. Nicht benutzte Kleidung, oder Geld spenden. Haltung zeigen. Denn, ja: Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen.


Titelbild: strassenstriche.net (CC BY-NC 2.0)
Ebenfalls erschienen im Neologismus 15-08

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