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Die Aufgabe des Intellektuellen

Über Männer mit Pfeife & Meinung

„Günter Wilhelm Grass war ein deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker“. Wikipedia hält den doch bedeutenden Tod des „großen Deutschen“ sehr nüchtern fest. Ich kann guten Gewissens sagen, dass ich ihn zu wenig kannte, fundierte Aussagen über ihn zu treffen, aber das haben zum Glück andere übernommen – mehr oder weniger radikal. Und wenn die meisten Nachrufe den Verlust eines großen Intellektuellen betrauern, ist doch einer besonders hängengeblieben, um näher betrachtet zu werden:

„Das Zeitalter des Intellektuellen ist endgültig vorbei“ von Alexander Grau in seiner Online-Kolumne bei der Zeitschrift Cicero. Die These: Wir brauchen keine alten Männer mit Pfeife, keine Mahner, Warner, Moralisten. Unsere Gesellschaft brauche Spezialisten; man werde die aussterbenden Intellektuellen, wie Grass einer war, nicht vermissen.

Das ist natürlich textartgerecht überspitzt. Dennoch bleibt die aufgestellte These interessant: „Wir brauchen keine Intellektuellen mehr.“ Das Folgende soll bei der Meinungsbildung helfen.

Das Für

Unsere Welt ist kompliziert. Wer das leugnet, sollte mal seinen Bankberater dazu bringen, einem Derivate verkaufen zu wollen, und dann versuchen, ihn das Thema alltagsverständlich so erklären zu lassen, bis man das Thema vollends verstanden hat. Und sich danach neben den Biologie-Studenten seines Vertrauens setzen, der genau über die Chancen und Risiken dieses und jenes Gen-Mais informieren soll.

Die Welt ist kompliziert, und höchstens Spezialisten können fundiert Handlungsempfehlungen zum Wohle unserer Gesellschaft geben. Gerade was die Gebiete Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik, die Herr Grau in seiner Kolumne für essentiell hält, aber auch darüber hinaus bei Fragen der Gesellschafts- und Sozialpolitik oder der Diplomatie sind speziell ausgebildete Fachleute die einzigen, die das Thema hinreichend durchschauen können. Man kann schon prinzipiell nicht alles wissen und beherrschen, erst recht nicht, wenn man nebenher noch zum Beispiel Künstler ist oder generell irgendeinen Beruf ausübt, der nicht in diese Bereiche fällt.

Wie Grau feststellt, führt die Zergliederung der Gesellschaft in Spezialgebiete zu einer „Kommunikationslücke“. Nicht-Fachleute verstehen die Fachleute nicht, und das nutze der Intellektuelle aus. Strukturell kann er keine Ahnung haben, aber anhand eines schubladenartigen Weltbildes kann er die Welt auf einfache Muster herunterbrechen und gegenüber gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen die Moralkeule schwingen. Die entsprechende „Maximalforderung“ für eine Reaktion auf diese Entwicklungen ist einfach zu verstehen und lässt sachliche Gegenargumente „kleinlich und hartherzig“ wirken.

Dabei nutzt der Intellektuelle als selbst ernannter Beschützer der Unterdrückten gnadenlos das Autoritätsargument aus, denn sein Einfluss basiert nur auf seiner gesellschaftlichen Stellung.

Sein Wesen ist also paradox: Er lebt von dem System, das er so medienwirksam bekämpft; „kritisch“ denkende Menschen sind seine Anhänger.

Graus Fazit: Wir brauchen keine „Intelligenzdarsteller“.

Ad Hominem

Um das kurz ausgeschlossen zu haben: Werden Herr Grau und ich gerade, indem wir uns zu gesellschaftlichen Themen äußern, nicht selbst zu den Intellektuellen, gegen die wir argumentieren?

Einerseits: Ad hominem, also gegen den Argumentationsgegner persönlich, sollte nicht argumentiert werden, denn es zeigt nur, dass man keine echten Argumente zum Thema selbst mehr hat.

Andererseits sollte man kurz betrachten, welche Bereiche Herr Grau für kritisch hält: „Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik“. Da befindet sich Gesellschaft nicht darunter.

Das Wider

Ja, Grau hat Recht: Der Begriff des Intellektuellen von lateinisch „intellectus“ Einsicht ist gefährlich. Man muss aufpassen, dass man niemandem allumfassendes Wissen attestiert. Daher möchte ich den (aus dem vorangegangenen Abschnitt doch sehr negativ belegten) Begriff des „Intellektuellen“ im Folgenden ersetzen durch den des „Moralisten“, der als solcher auch in unserer heutigen Gesellschaft noch Mitspracherecht haben sollte.

Ja, wir haben eine zunehmend komplexe Welt, deren Einzelaspekte vielleicht nur von Spezialisten erfasst werden können. Dennoch gilt es, ein paar weitergehende Dinge zu beachten:

Erstens

Herr Grau blendet in seinem Artikel Politiker völlig aus. Doch allein die Tatsache, dass Bundesminister ohne größere Probleme vom Wirtschafts- ins Verteidigungsministerium oder von Umweltministerium ins Kanzleramt wechseln können (da sind Bereiche tangiert, die auch Herr Grau für kritisch hält) stimmt bedenklich – zumal Politiker am wesentlich längeren Hebel sitzen als Künstler.

Zweitens

Wir haben offensichtlich eine Kommunikationslücke, die die Spezialisten alleine nicht in der Lage sind zu überbrücken. Irgendeine Instanz muss dabei helfen, warum nicht ein halbwegs vernünftiger Nicht-Spezialist? Einer, der es zusätzlich auch noch kraft Beruf versteht, mit Worten umzugehen? Natürlich nicht alleine, wozu haben wir die Journalisten, aber sind das nicht auch irgendwo Menschen mit allgemeinerem Wissen?

Außerdem erfüllen die von Intellektuellen/Moralisten vorgebrachten „Maximalmeinungen“ eine sehr wichtige Aufgabe bei der Meinungsfindung: Wir hören die Extreme, wir bilden uns eine Meinung irgendwo dazwischen (oder nehmen die Extremmeinung an, das will ich nicht ausschließen).

Drittens

Auch Spezialisten irren. Das ist normal. Oder sie sind sich uneinig. Und das gilt nicht nur für den doch stark meinungsbehafteten Bereich von Finanzen und Wirtschaft, sondern auch für Naturwissenschaften. Wer entscheidet, welche Spezialistenentscheidung die richtige ist? Wie werden Irrtümer entdeckt? Hier kann eine externe, umfassendere Sicht ein Korrektiv sein.

Viertens

Ich habe mich vor wenigen Absätzen dabei ertappt, wie ich etwas von „unserer von Spezialisten beherrschten Gesellschaft“ schreiben wollte. Das trifft noch nicht mal überspitzt zu (siehe „Erstens“), aber ist letztendlich das, was Grau in seinem Artikel fordert: Die Spezialisten sind die einzigen, die richtige Prognosen und Anweisungen geben können, die man dann auch befolgen muss; und alle anderen dürfen das dann nicht anzweifeln, denn sie haben ja keine Ahnung von der Materie und davon, was richtig ist für die Gesellschaft.

Jetzt kann man natürlich fragen, ob das stimmt; und das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die meiner Meinung nach aber relevantere und einfachere Frage ist, ob das ganze demokratisch ist. Ich für mich beantworte diese Frage mit „Nein“ und sehe genau hier die Stärke des Moralisten: Eine andere Herangehensweise an das Problem. Wie im Artikel „Weniger Demokratie wagen?“ von Michael Thies und mir dargelegt, basieren demokratische Entscheidungen darauf, dass, was getan werden kann (was die Spezialisten vorschlagen), mit dem gefiltert wird, was getan werden darf, was unseren Werten entspricht, was moralisch richtig ist. Das, wo der Moralist qualifiziert ist.

Das Fazit

Es ist die Zeit der Moralisten. Oder so. Um das mal radikal formuliert zu haben. Meiner Meinung nach liegt in moralischer Bewertung eine der Stärken unserer Gesellschaft, die wir nicht einfach aussterben lassen sollten.

Ich gebe Herrn Grau Recht, wenn er sagt, dass wir auch Intellektuelle oder Moralisten hinterfragen müssen, dass sie kein Allheilmittel sind. Aber sie sind wichtig.

Wir sollten das Intellektuelle nicht aufgeben.


Titelbild: Luz Bratcher (CC BY-NC-SA 2.0)
Ebenfalls erschienen im Neologismus 15-04

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