Impressionen

Dieses Wochenende bin ich mit der S-Bahn von Karlsruhe nach Heidelberg gefahren. Nachdem man die Abfahrt erst von Gleis 7 auf Gleis 10, und dann ohne Ankündigung an Gleis 10 weiter auf Gleis 12 verlegt wurde, war mir klar, dass diese Fahrt etwas besonderes wird. Auf dem Weg zum tatsächlichen Gleis (das schon außerhalb der eigentlichen Bahnhofshalle war) lief knapp hinter mir ein leise vor sich hinfluchender Mann. „Das können die nicht machen; was denken die sich eigentlich“ war der Grundtenor seines Fluchens, gespickt mit der Betitelung der Menschen, die das Gleis wahrscheinlich wegen verspäteter Züge verlegen mussten, unter anderem als „die Idioten“.

Die S-Bahn war voll. Und während ich einen Sitzplatz gefunden hatte, an dem ich auch bequem meinen Rucksack abstellen konnte, stellte sich besagter Mann in den Gang neben mir. Sein stilles Fluchen setzte sich fort und bezog sich im Folgenden auf die Menschen, die an ihm vorbeigehen wollten. Hauptsächlich waren das Menschen, denen man einen Migrationshintergrund unterstellen würde. So gingen seine Flüche dieses Mal in Richtung der „Ausländer“, was die sich eigentlich denken würden. Und überhaupt. Dabei erntete er gemischte Blicke aus den Reihen der auf den angrenzenden Plätzen Sitzenden.

Ich möchte den Mann an dieser Stelle kurz beschreiben: Dass er Ende 50 ist, erkennt man an den Falten auf seiner Stirn, die er ziemlich sicher auch daher hat, dass er seine Augenbrauen ständig grimmig zusammenzieht. Seine Halbglatze wird umrandet von 5 cm langen Haaren, die nahtlos in den ebenso langen Bart übergehen. Er trägt eine helle Jeans und einen hellblauen, schon etwas verwaschenen Pullover, die Ärmel hochgekrempelt. Links eine Uhr, rechts drei Armbänder: Eines mit größeren, bunten „Edel“steinen, ein silbernes, eines aus braunem Leder. Dazu an 5 der insgesamt 10 Finger insgesamt 8 Ringe, jeweils ausgefallen und ebenfalls mit großem und nur subtil weniger buntem Zierschmuck.

Hinter Bruchsal wurde der Platz mir gegenüber im Viererabteil frei und der Mann setzte sich zu mir und begann ein Gespräch. Ja, er hat mir manchmal ein bisschen Angst gemacht. In den Momenten, in denen er sich zu weit zu mir rübergebeugt hat; über den Laptop, auf dem ich bereits angefangen hatte, diesen Text zu schreiben. Aber mehr noch mit dem, was er manchmal unterschwellig gesagt hat.

In weiten Teilen hat er auch normale Dinge erzählt: Dass er aus Bayern komme, jetzt in Heidelberg wohne. Wo ich hinwolle. Ja, Heidelberg sei eine sehr schöne Stadt. Der ganzen Region ginge es ja gut. Eine schöne Altstadt habe Heidelberg. Und dann kam der Unterton: Ein Flüchtlingsdrehkreuz habe man auch. In einer alten Kaserne etwas außerhalb, betrieben von privat. Und er habe gelesen, das würde in der Nachbarschaft für Probleme sorgen. Nicht dass ich ihn falsch verstünde, er habe ja nichts gegen Flüchtlinge. Aber da läge ja einiges im Argen. Ja, natürlich müsse man die irgendwo unterbringen. Aber die Regierung habe da einiges verschlafen. Und irgendwo hat er Recht.

Ich schreibe auf meinem Laptop weiter am Text. Wie lange ich denn am Tag so an dem Ding arbeiten würde. Länger, jetzt in der Klausurphase. Für ihn sei das ja nichts. Ich erwidere, als Informatikstudent habe man sich da sehr grundsätzlich dafür entschieden. Er lacht. Es gebe viel IT hier im Ländle. Ich frage ihn, ob er sich wirklich sicher ist, dass Karlsruhe und Heidelberg zum „Ländle“ gehören, dass doch eher das Land der Schwaben bezeichnet. Nein nein, das sei schon richtig so.

Die Bahn ist recht voll. Auf dem Platz neben mir steht nur mein Rucksack. Eine gerade zugestiegene Frau bittet mich darum, aufzurücken. „Junge! Rück mal…“, sagt sie, auf meinen Rucksack zeigend, mit leichtem osteuropäischen Akzent. Der Mann wirft ihr einen bösen Blick zu und sagt zu mir: „Unhöflich. Bleib sitzen.“ Die Frau hat es sich anders überlegt, geht kommentarlos weiter und setzt sich in das nächste Viererabteil. Der Mann murmelt „Fotze“ in seinen Bart.

Wir sind in Heidelberg angekommen und ich bin froh, aussteigen zu können. Er wünscht mir noch einen schönen Tag; die anderen Fahrgäste gucken mich etwas verwirrt an. Ich steige aus.


Inzwischen bin ich auf dem Rückweg. Es ist weit nach Mitternacht und dank Verspätung der Bahn kann ich nochmal eine Stunde auf meinen Nightliner nach Hause warten. Ich versuche zu reflektieren, was da heute Nachmittag in der Bahn passiert ist. Was das für ein Mensch war. Repräsentativ für unsere Gesellschaft ist er vielleicht nicht. Aber vielleicht ist er offener und spricht aus, was viele andere nur denken. Kein anderer hat ein Wort mit ihm gewechselt, und man hat ihm angemerkt, dass er froh war, dass ich ihm zumindest ein bisschen zugehört und geantwortet, vielleicht (hoffentlich) auch ein bisschen widersprochen habe. Gemessen an seiner Reaktion erlebt er so etwas offensichtlich seltener.

Vielleicht ist das der Fehler unserer Gesellschaft.


Titelbild: Fabian Bromann (CC BY 2.0)
Ebenfalls erschienen im Neologismus 15-10

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