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Neo-Romantik

Ein Essay über die Literatur unserer Zeit

Wie viele Bereiche der Geschichte wird auch die Literaturgeschichte in verschiedene Epochen eingeteilt. Ob Klassik, Realismus oder Romantik: Jede Epoche hat ihre ganz eigenen Kriterien. Doch was sind die Kriterien der aktuellen Literatur? In Amsterdam, einer der vielleicht schönsten (und sicher auch romantischsten) Städten Europas, haben die Autoren den Begriff der Neo-Romantik entwickelt, um die heutige Literatur zu beschreiben.

Warum dieser Begriff gewählt wurde, und was Neo-Romantik für unsere Literatur bedeutet, soll im Folgenden erörtert werden.

Die „alte“ Romantik

Die alten Romantiker konzentrierten sich in ihrer Literatur auf die zunehmende Industrialisierung der Umwelt. Die Erfindung der Dampfmaschine, die sich rasend schnell entwickelnde Technik, industrielle Revolutionen in jeder Sparte – besonders die Angst vor zu schnellem Leben und der Entfremdung vom gewohnten Alltag stellte eine Bedrohung für die Menschen der Romantik dar.

In der Literatur flüchten sich die Schriftsteller der Zeit zurück in die Natur und versuchen so, die Gesellschaft mit ihrem immer schneller werdenden Wandel hinter sich zu lassen. Man romantisiert das Mittelalter, das wenig mit den Problemen der damaligen Zeit gemeinsam hat und in den Köpfen der Literaten gleichzeitig die Einheit mit Natur und das einfache Leben buchstäblich romantisiert. Gefühl, Leidenschaft, Individualität – all das sollten die durch Technologie entstandenen Risse im Menschen wieder flicken.

Joseph von Eichendorff zum Beispiel schreibt in seinem Gedicht „Die blaue Blume“ (1818) von dem vergeblichen Versuch, die titelgebende Pflanze zu finden. Es geht um die Einheit von Realität und um die tiefsten Wünsche des Verfassers: Die Blaue Blume als Symbol schlechthin für die Suche nach Nähe zur Natur, zu den Mitmenschen und nach einem Entschleunigen im Wandel der Zeit. Ebenso ist die Blaue Blume aber auch ein Sinnbild um die literarische Epoche der Romantik zu beschreiben; ein ewiges Suchen ohne Lohn, dennoch eine Hoffnung, die nicht endet.

Die Thematik der Romantik erinnert an eine Utopie, sie gibt Hoffnung auf die Gesundung der Gesellschaft, auf die Verwirklichung des Einzelnen, laden den Leser zum Träumen von einer besseren Welt ein. Die Probleme der Realität werden in einer Art Negativabdruck auf unvergleichliche Weise präsentiert: ein „So soll es sein“ statt einem „So müssen wir nun leben“.

Doch was hat diese Methode der Romantik in der Realität bewirkt? Sicherlich regt sie zum Nachdenken an, doch überwiegt hier nicht eher der Hang zum Hinterherträumen über den Handlungsdrang? Wir leben heute in einer Welt, die ohne die Industrialisierung nicht existieren würde – und obwohl wir uns lange an technische Vorzüge gewöhnt haben, erinnert uns die Literatur ab und an noch an die Grundzüge der Romantik.

Literatur heute

Es stellt sich nun die Frage, wie man die heutige Literatur zusammenfassen kann. Auf den ersten Blick sieht man viele Strömungen – von Charlotte Link-Romanzen bis Dan Brown-Thrillern. Kann man das überhaupt sinnvoll unter einen Hut bringen? Tausende von Krimis – trotzdem kann man Krimis wohl kaum als die literarische Strömung unserer Zeit bezeichnen.

Die Frage, mit der man wohl am schnellsten herausfindet, welche Richtung unsere Zeit tatsächlich prägt, ist wohl diese: Was dominiert unsere Gesellschaft auf langfristige Sicht?

Das nach Meinung der Autoren gravierendste Problem, die größte Veränderung, aber auch die wichtigste Herausforderung, die langfristig auf uns als Gesellschaft zukommen wird, ist der demographische Wandel. Insgesamt bedeutet das den Wandel zu einer älteren Gesellschaft. Für den Einzelnen steigt jedoch der Druck, jung zu bleiben, also Körper und Geist gleichermaßen und gegen immer mehr körperliche und geistige Beschwerden fit zu halten. Daneben soll man jeden Wandel der Jugend verstehen, die neuste Technik mitmachen – den Anschluss nicht verlieren.

In einer alternden Gesellschaft, deren oberstes Ziel es ist, fit und jung zu bleiben, ist das Jugendbuch die wichtigste literarische Gattung. Und der Erfolg von Jugendbüchern gibt Recht: ob „Harry Potter“, „Twilight“, „Tribute von Panem“, „Divergent“ oder „Maze Runner“ – diese Bücher werden längst nicht nur von Jugendlichen und Kindern gelesen, und auch die Filme werden begeistert von Erwachsenen verfolgt.

Phantastische Welten, weg von „Realität“ – findet sich hier eine Parallele zur alten Romantik? Gerade in den letztgenannten Büchern findet sich jedoch ein anderen Trend, der sich von der alten Romantik abgrenzt.

Die neue Romantik

In beiden Zeiten der Literaturgeschichte gibt es ähnliche Voraussetzungen: rasanter technologischer Fortschritt. Früher war das die Dampfmaschine, heute ist es der Computer. Im Grunde jedoch ist es die gleiche Entfremdung: Der Menschen sieht sich überfordert von Technologie; die Wirtschaft und damit die Arbeitswelt der Menschen ist im stetigen Wandel, das Leben beschleunigt sich. Landflucht ist ein Phänomen, das uns damals wie heute beschäftigt.

Natürlich war das alles auch schon vorher und zwischen der alten Romantik und heute vorhanden, aber jetzt rückt es wieder stärker in den Fokus, da sich der Wandel dank neuer Technologie erneut beschleunigt. Und genauso wie bei den alten Romantikern wird diese Technologie abgelehnt und kritisiert.

Allerdings sind die modernen Romantiker zynisch geworden. Wo früher Eichendorff die Blaue Blume zumindest in seinen Gedichten finden konnte, wo eine bessere Welt, eine Utopie, skizziert wurde, herrscht aktuell die Dystopie vor. Die Menschheit hat es irgendwie durch ihre ressourcenhungrige Art geschafft, die Welt ins Chaos zu stürzen. Technologie konnte die Menschheit nicht wie versprochen retten, nein, sie hat das Problem nur verschärft.

Ob es wie in „Divergent“ und „Panem“ ein Krieg um Rohstoffe war, oder wie in „Maze Runner“ eine Naturkatastrophe, ist egal. Es entsteht ein System, dass die Freiheiten einschränkt und die Menschenrechte bricht, und das alles mit modernster Technik. Natürlich kämpft der Held dagegen an. Aber er muss sich dem System unterwerfen: Der Sturz des Kapitols gelingt Katniss Everdeen in Panem nur mit Hilfe des ebenfalls nicht freiheitlichen, nicht utopischen Distrikt 13.

Was ist passiert? Unsere neuen Romantiker kennen die Vergangenheit. Sie wissen um das Versagen der alten Romantiker in ihrem Kampf gegen die Technik – die Romantik hat schließlich die industrielle Revolution nicht aufgehalten.

Trotzdem hatten diese noch Hoffnung auf und eine Vorstellung von einer besseren Welt. „Erziehung“ der Leser sollte durch das Aufzeigen einer Utopie, einer besseren Alternative zur Realität werden lassen. Heute ist man da weitaus fatalistischer. Man sieht mit Blick auf die Vergangenheit keinen anderen Weg mehr; ist von der Realität zu sehr ernüchtert, noch das kommende Gute zu sehen und niederschreiben zu können. Stattdessen beschreibt man eine Dystopie, wie die Welt aussieht, wenn es schief geht, und in der Menge führt das zwangsweise zu dem Gesamteindruck, dass diese Dystopie aktuell unausweichlich ist.

Die Literatur setzt ein Mahnmal.

Nicht nur die Literatur

Auch andere Arten der populären Kunst, allen voran das Kino, das Romanvorlagen umsetzt, unterwerfen sich den Kriterien dieser modernen Romantik. Doch auch andere, erfolgreiche Filme folgen dem Schema der oben beschriebenen Neo-Romantik.

Als Beispiel sollen hier die sehr populären Marvel-Filme dienen: Bis zum zweiten „Captain America“ war noch alles in Ordnung: Menschen sind die Guten und retten, auch mit der Hilfe von Technik, wie zum Beispiel bei „Iron Man“ die Welt vor dem Bösen. Aber seit dem Film „Winter Soldier“ kommt eine neue Ambivalenz zum Vorschein. Technik, für das Gute geschaffen, wird plötzlich böse. Die Klimax dieser Entwicklung finden wir in „Avengers: Age of Ultron“, wo Ultron, einst doch zur Wahrung des Friedens geschaffen, böse wird und nur knapp an der Zerstörung der Welt gehindert werden kann. Und dieser Trend setzt sich wohl noch weiter fort: Der dritte „Captain America“ trägt den verheißungsvollen Titel „Civil War“, auch hier sehen wir also Helden gegen ein dystopisches System.

Moderne Utopie

Dennoch: Kann eine Dystopie die gleiche erzieherische Wirkung entfalten wie eine Utopie? Kann man mithilfe von grausamen Szenarien, schmerzvollen Verlusten und fragwürdigen Systemen die Menschen zum Handeln aufrufen? Schließlich scheint es ja doch immer einen Ausweg zu geben.

Die Wahrheit ist: Dystopien ohne ein gutes Ende, ohne diesen letzten Rettungswegen wühlen uns zwar auf, es stellt sich aber auch schnell ein Gefühl der Machtlosigkeit ein. Was soll ich dagegen tun, wenn die Welt in diese Richtung geht?

Utopien hingegen geben Hoffnung, sie sind es, die manche Menschen zum träumen bringen und andere dazu, diese Träume zu verwirklichen. Und: All die Geschichten, die die Helden der modernen Literatur zur Motivation ihrer Mitstreiter nutzen, sind schließlich auch in gewisser Weise Utopien; denn Dystopien schrecken uns ab, Utopien locken uns an.

Ein Beispiel für eine moderne Utopie finden wir im Science-Fiction Giganten „Star Trek“. Die Welt scheint noch realistisch und greifbar genug, um als erreichbares Ziel wahrgenommen zu werden; die Technik und Gesellschaft wirken utopisch und gut. Ein kurzer Blick auf das, was umgesetzt wurde: Wir sehen viel Technik, die wir tatsächlich heute so in unseren Alltag integriert haben – ob Klapphandy, Tablet oder vieles mehr in Forschung. Ob hier eine Übertragung auf unser gesellschaftliches Bild möglich ist? Warum nicht.

Eine der berühmteren Dystopien, „1984“ von Gerge Orwell hingegen hat nichts verhindert. Die nahezu klassische Dystopie insklusive totaler Überwachung der Bevölkerung ohne Ausweg, die in sich erschreckend logisch stringent ist. Seine Funktion als Mahnmal hat hat dieses Werk jedoch nicht erfüllen können, wie man ganz wunderbar an den Snowden-Enthüllungen ablesen kann. Diese wirken sogar fast schon wie inspiriert durch Orwell...

Zukunft?

Wie geht es jetzt mit unserer Literatur weiter? Auf die Romantik folgte in Deutschland der Realismus. Kann man also schlussfolgern, dass also auf die Neo-Romantik der Neo-Realismus kommt?

Das oberste Kriterium des Realismus war Objektivität. Alles sollte nach Möglichkeit nah am Geschehen, detailgetreu, ohne großen Schmuck und vor allem eben objektiv berichtet werden – auf uns wirkt das wie eine Ernüchterung, so als würden die Ideen der großen Literaten der Romantik ohne ein Wimpernzucken als naiv und träumerisch entlarvt werden und die Literatur als Konsequenz beschließen, die Suche nach der Blauen Blume schlussendlich aufzugeben, aufzuwachen und den Menschen zu zeigen, wie es wirklich ist. Unklar bleibt, was das für die bereits ernüchterten Neo-Romantiker bedeutet. Ist Objektivität dann wieder ein Blick auf positive Errungenschaften der letzten Jahrzehnte?

Und doch ist eins irgendwie sicher: In jeder Phase der Romantik zeigt es sich erneut, ob nicht die Motivation der Utopie vielleicht diesmal reicht, die Menschen zu motivieren, diese nicht nur zu träumen, sondern tatsächlich zu leben.


Ebenfalls erschienen im Neologismus 15-09
Gemeinsam geschrieben mit Jana Willemsen
Titel-Bild: Kollage von Michael Thies aus Lessing (gemeinfrei) und #PhilippeCPhoto (CC BY-NC-SA 2.0)

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