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Bernstein-Hypothese

Soziolinguistik in einer Kurzgeschichte

Einleitung

Im Deutsch-Grundkurs in der Oberstufe erhielten wir die Aufgabenstellung, eine Kurzgeschichte zu einer soziolinguistischen Theorie zu verfassen. Themenwahl und Länge der Kurzgeschichte selbst waren den Kursteilnehmern als Verfassern freigestellt, einzige Vorgabe war, dass die Theorie illustriert wurde. Im Folgenden will ich meine Kurzgeschichte von damals veröffentlichen und schließlich die in ihr versteckte Bernstein-Hypothese, besagte soziolinguistische Theorie, kurz beleuchten und über ihre Aussagen reflektieren.

Kurzgeschichte

Der Knall zerreißt die Luft. Wie bin ich hier her gekommen? Während sie die Waffe langsam sinken lässt, beginnt die Frau zu weinen. Mit einem dumpfen Geräusch landet die Pistole im Schoße des Mannes, der mich hierher gebracht hat, der für sie ein Gott war, und der sich nun den blutenden Arm hält. Weitere Polizisten stürmen den Raum, wobei ihr Blick erst auf ihren toten Kollegen fällt. Für die Männer ist es ein Leichtes, den verwundeten Mann mit der Waffe im Schoß zu überwältigen. Wie bin ich hier her gekommen? Langsam erinnere ich mich. Immer stärker wird mir bewusst, dass ich nicht mehr nur eine unbeteiligte Dritte bin. Die Andere hat aufgegeben und sitzt auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht. Und ich stehe nur da.

Doch wie bin ich noch gleich hier her gekommen? Ich war wie jeden Tag in meinem Büro in der Chefetage unseres Firmenhochhauses gewesen. Heute habe ich vor dem Vorstand für unsere neue Firmenkampagne gekämpft, die die Möbel unserer Firma mit Hilfe von Straßenkünstlern deutschlandweit in Innenstädten verteilen und so bewerben sollte, was gar nicht so leicht war, weil der Vorstand, bestehend aus fünf altbackenen Anzugträgern, neuen Ideen insbesondere von Frauen, wie ich eine bin, nicht gerade aufgeschlossen entgegensteht. Eigentlich hätte mich nach dem letzten Meeting zur Mitarbeiterentlassung in der aktuellen Verkaufsflaute mein Verlobter abholen sollen; weil der aber noch länger in der Bank arbeiten musste, war der Weg in unser gemeinsames Apartment leider zu Fuß zu beschreiten.

Irgendwo da muss es mir dann passiert sein. Da ich mich an kaum etwas erinnere, kann ich nur mutmaßen, dass es an der U-Bahn-Station am Park passiert sein muss. Was mir allerdings immer deutlich vor Augen bleiben wird, ist der Schatten, was ich immer Fühlen werde, ist der Schlag auf meinen Hinterkopf und mein anschließender Aufprall auf den Bürgersteig. Und eine unglaubliche Angst, die ich noch nie in meinem Leben gespürt hatte. Als ich das Bewusstsein verlor, wusste ich noch nicht, dass es noch schlimmer werden würde.

Langsam klärte sich meine Sicht. Langsam hob sich der schwarze Vorhang meiner Augenlider, und ich konnte beginnen, meine Umgebung zu erfassen; den Raum, in dem ich mich befand, und der wohl ein Heizungskeller zu sein schien. Er war jedoch speziell für mich hergerichtet, worauf das Bett, auf dem ich gerade mein Bewusstsein wiedergefunden hatte, und ein Tisch mit einem Stück Brot und einem Glas Wasser schließen ließen. Nicht gerade das Abendessen, das ich zu Hause gemacht hätte, aber mein nagender Hunger zwang mich, doch etwas an dem Brot zu knabbern, wobei an dessen Trockenheit das Wasser auch nichts mehr ändern konnte. Plötzlich knarrte die Tür hinter mir. Eine Stimme: „Na Täubchen, aufgewacht? Schmeckt’s?“ Ich drehte mich langsam um, nur um den Blick ganz schnell wieder zurück auf meine „Mahlzeit“ zu richten. Ich hätte nicht gedacht, dass mich der Anblick meines Entführers so schockieren würde. „Sieh mich doch an, Täubchen! Ich hab’ dir Essen gemacht! Bedank’ dich bei Onkel Klaus!“ – „Was sind Ihre Forderungen, damit Sie mich wieder freilassen? Wenn Sie Geld wollen, kann ich Ihnen Geld geben. Mein Verlobter wird sich um alles kümmern, da er Experte in Geldgeschäften ist. Ich bin sicher, dass sich da eine schnelle Einigung finden lässt“, sagte ich schnell, doch nicht hastig, den Blick immer noch auf das angebissene Brot gerichtet. „Aber Täubchen, nicht so eilig! Wir haben Zeit! Dein Verlobter ist nicht hier! Wir können zusammen noch ganz viel Spaß haben…“ Die Tür fiel ins Schloss. Er setzte sich auf meinen Tisch. Warum ich meinen Blick so schnell von ihm abgewandt hatte? Er hatte keine Hose an. Seine Augen blitzten. Mein Schrei verschallte ungehört. Ebenso wie sein Lachen.

Als ich erwachte, war er wieder da. Genau wie die Bilder vom letzten Mal, vom vorletzten Mal, von all den Malen. Ich hatte Schmerzen, fühlte mich nackt und befleckt und vor allem eins: Hilflos. Ich hatte mich in der hintersten, dunkelsten Ecke verkrochen, wohin kaum Licht und die Geräusche nur ganz dumpf drangen. Die Andere war da. Hätte man nicht so genau hingeguckt, hätte man sie für meinen Zwilling halten können, doch wenn man sich Zeit ließ, konnte man die feinen Unterschiede sehen. Sie war blasser, und ihr fehlte der Glanz in den Augen, der Zielstrebigkeit und Entschlossenheit zeigte. Sie fand „Onkel Klaus“ ganz nett, schließlich hatte er als zweite Mahlzeit sogar kalte Suppe nur für sie gemacht. Sie vergötterte den Mann, der mir meinen Körper genommen und ihn benutzt hatte, nur für sich. Sie war gerne sein „Täubchen“. Und sie war vor allem eins: Sie war ich.

Es war kalt in der hinteren Ecke meines Bewusstseins, und rau, aber dort konnte ich eine Distanz zu dem Geschehenen aufbauen. Die Andere handelte, und das freute sowohl sie als auch ihren „Onkel Klaus“. Und „Onkel Klaus“ verbrachte viel Zeit mit der Anderen. Sie unterhielten sich viel: „Hey Täubchen!“ – „Ich muss auf Klo, Onkel Klaus!“, und er ging mit ihr zum Abort. Hätte ich gewagt zu sagen: „Besäßen Sie die Güte, mich zur Toilette zu leiten?“, hätte er mich wahrscheinlich ausgelacht und dazu gezwungen, meine Blase im Heizungskeller zu entleeren. Manchmal unterhielten sich die beiden auch über interessantere Themen. „Onkel Klaus“ hatte unter mir im Regallager der Möbelkette gearbeitet, und war unter mir entlassen worden. Oder anders formuliert: „Was arbeitest’n du?“ – „Nix. Ich wurde entlassen. Von dir. Aber jetzt stellst du mich ja wieder bald ein, jetzt bist du mein Täubchen…“ Es war widerlich, doch je schlimmer er war, umso mehr vergötterte ihn die Andere für jedes kleine bisschen Güte: Der Gang zur Toilette, der Stofffetzen, der dem Bett als Decke diente, alles. Und sie würde alles für ihn tun. Und ich war hilflos, versteckt in mir selbst.

Dass dieser Zustand nicht von endloser Dauer sein würde, war mir relativ schnell klar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man mich – also die Andere – finden würde. Doch da lag das Problem: Wie sollte man mich befreien, wenn ich nicht ich war? Wie sollte ich mich bemerkbar machen? Würde ich immer die Andere bleiben? Mein Leben würde nie wieder normal werden. Ich weinte. Die Andere saß da und unterhielt sich mit „Onkel Klaus“, der heute irgendwie aufgeregt wirkte. Aus meiner dunklen Ecke konnte ich die Pistole erkennen, die er umklammert hielt. Er sagte Dinge wie „Die Scheiß Bullen“, und „Wir müssen uns verstecken, mein Täubchen!“ Die Andere hing an seinen Lippen und nickte verständnisvoll. Plötzlich ein Knall und Geschrei von oben. „Los los los, rauf, 3. Stock!“ Die Schritte der schweren Stiefel verschwanden nach oben, wo sie nichts finden würden. Es war so knapp! Dann rief eine einzelne Stimme: „Vielleicht ist sie im Keller!“, und man hörte die Stiefel die Kellertreppe herunterspringen. Die Andere war beunruhigt, weil „Onkel Klaus“, ihr Gott, Angst hatte. Dann ging alles so schnell. Jemand trat die Tür ein. „Onkel Klaus“ schoss. Der Jemand in Polizeiuniform, nur am Arm getroffen, schoss zurück. „Onkel Klaus“ sank zu Boden. Die Andere schrie. Vor Angst, vor Trauer, vor Zorn. Beugte sich über ihren sterbenden Gott. „Geht es Ihnen gut?“, fragte der Polizist, der die Waffe inzwischen gesenkt hatte. Die Andere nahm die Waffe aus „Onkel Klaus“’ schlaffen Händen.

Ein Knall zerriss die Luft.

Würde mein Leben jemals wieder so werden, wie es war? Wer bin ich? Wann bin ich? Bin ich, oder ist sie? Ist es meine Schuld? Oder ihre? Oder ist das egal? Oder das Gleiche? Bin ich wirklich aus der Ecke hervorgekrochen, oder ist das alles nur Illusion? Eine Illusion, die ich jeden Tag sehe. Im Spiegel sehe ich nicht mich, da sehe ich sie. Ohne Glanz in den Augen.

Onkel Klaus, ich komme.

Kritik

Kernaussage in der von Basil Bernstein 1958 entwickelten Hypothese, ist die Unterscheidung des Sprachgebrauchs in zwei Codes: Den elaborierten und den restringierten Code. Der elaborierte Code stellt eine Hochform der Sprache dar: Grammatikalisch exakte, verschachtelte Sätze, die durch Fachvokabular und verknüpfende Konjunktionen logisch komplexe Sachverhalte präzise ausdrücken. Der restringierte Code ist simpler gestrickt: Kurze, umgangssprachliche Sätze, ein kleinerer Wortschatz.

Bernsteins These weiter: Der elaborierte Code ist in einem Umfeld üblich, in dem wenig Wissen geteilt wird, und daher zur Weitergabe von Wissen eine komplexere, exaktere Sprache nötig ist. Der restringierte Code setzt jedoch darauf, dass weite Teile des Wissens bereits bei allen Zuhörern vorhanden sind, weshalb auf Komplexität verzichtet werden kann.

Der nächste Schritt in der Theorie bezieht diese Sprachcodes jetzt auf gesellschaftliche Schichten: So wird der elaborierte Code beispielsweise von Mittel- und Oberschicht verwendet. Diese benötigen auf Basis ihres größeren Wissens die Explizität und Exaktheit des elaborierten Codes, sind aber auch umgekehrt wegen ihrer Fähigkeit, mit elaboriertem Code umzugehen, besser dazu in der Lage, komplexe Sachverhalte zu erfassen und sich neues, fortgeschrittenes Wissen anzueignen. Mitglieder der Unterschicht haben in ihrem Alltag hingegen keine Notwendigkeit für eine solche Ausdrucksweise; ihnen reicht folglich der restringierte Code. Umgekehrt, so die These, sind sie aber auch weniger gut in der Lage, komplexe Sachverhalte zu erfassen, da sie diese gar nicht so einfach sprachlich darstellen können. Zusätzlich kommt es zwischen Mittel- bzw. Oberschicht und Unterschicht zu einer Sprachbarriere, da beide Schichten den jeweils anderen Sprachcode nicht verwenden können.

Die Kurzgeschichte erzeugt genau eine solche Situation, das Zusammentreffen der beiden Sprachcodes, repräsentiert durch das lyrische Ich und Onkel Klaus. Unter dem Druck der Entführungssituation kommt es zur Persönlichkeitsspaltung des lyrischen Ichs in eines, das den elaborierten Code verwendet und weiter an seiner Vergangenheit festhält, und in „die Andere“, die ihren Sprachcode und ihre Verhaltensmuster an ihren Entführer angepasst hat, und, unter Beobachtung ihres elaborierten Ichs, Bernsteins Hypothese entspricht und vielleicht auch ein bisschen erweitert.

Trotzdem möchte ich diese Hypothese hier nicht unkritisiert lassen. Natürlich kann man Sprache beziehungsweise Sprachgebrauch klassifizieren und differenzieren. Doch enthält Bernsteins Hypothese gerade in ihrer Urform eine starke Diskriminierung des nicht als Idealform angesehenen restringierten Codes. So ist ein anderer Begriff für die Bernstein-Hypothese „Defizithypothese“. Freilich kann man mit dieser Hypothese für bessere und gerechtere Bildung argumentieren (und mehr Bildung halte ich definitiv für einen richtigen Weg), doch kann man ebenso gut argumentieren, dass sie zu einer starken Abwertung nicht nur eines Sprachcodes, sondern einer ganzen Gesellschaftsschicht führt. Neuere Theorien sprechen jedoch auch dem restringierten Sprachcode eine große Ausdrucksstärke und Bedeutung zu – Bernstein selbst gestand ihm nach Kritik an seiner Theorie zu, er stelle „eine Form von Sprache dar, die eine auf Gemeinschaft gegründete Kultur symbolisiert“. So fand ein Wandel von einer normativen Defizit- zu einer deskriptiven Differenzhypothese statt.

Um die Bernstein-Hypothese zu wissen schadet jedoch nicht, äußert sie doch, auch wenn umstritten, grundlegende Gedanken zum Thema Sprache in der Gesellschaft.


Ebenfalls erschienen im Neologismus 16-03

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