Navigation

Bon Iver: 715 – CRΣΣKS

Ein Interpretationsversuch

Down along the creek
I remember something
Her, the heron hurried away
When first I breeched that last Sunday

Low moon don the yellow road
I remember something
That leaving wasn’t easing
All that heaving in my vines
And as certain it is evening ‘at is NOW is not the Time’

Toiling with your blood
I remember something
In B, un—rationed kissing on a night second to last Finding both your hands
As second sun came past the glass
And oh, I know it felt right
And I had you in my grasp

Oh, then how we gonna cry?
Cause it once might not mean something?
Love, a second glance
It is not something that we’ll need
Honey, understand that I have been left here in the reeds
But all I’m trying to do is get my feet out from the crease

And I see you
Turn around, you’re my A-Team
Turn around, now, you’re my A-Team
God damn, turn around now
You’re my A-Team

— Bon Iver: 715 – CRΣΣKS

Bon Iver, eine künstlerisch abgewandelte Form des französischen „bon hiver“, „Schöner Winter“, ist das Singer-Songwriter-Projekt des Sängers, Gitarristen und Organisten Justin Vernon, wie Wikipedia treffend zusammenfasst. Ich bin damals durch meinen Bruder auf den Künstler gebracht worden, dessen melancholische Musik irgendwie einen ganz besonderen Klang hat. Nach fünf Jahren Pause gibt es jetzt wieder ein neues Album von Bon Iver, das auf dem YouTube-Channel des Künstlers in einer Reihe von sehr künstlerischen Lyric-Videos anzuhören ist.

Viele Fans, darunter auch mein Bruder, werfen dem neuen Album einen starken Stilbruch vor und nennen die Musik nicht zu unrecht „komisch“. Es ist nämlich ganz ohne Zweifel keine Musik, die man einfach mal nebenher hört; sie verlangt im Gegenteil, aktiv wahrgenommen zu werden. Und das ist etwas, was ich gemacht habe, als ich das zweite Mal 715 – CRΣΣKS gehört habe. Zuerst hat mich das Lied gestört, weil es nur aus einem obskur ge-autotune-ten Sänger besteht. Dann haben mich jedoch die Stimmung des Liedes und seine Metaphorik so sehr mitgenommen, dass ich mir in den Kopf gesetzt habe, zu verstehen, was uns der Sänger eigentlich mitteilen möchte und worum es in dem Text geht – oder das zumindest zu versuchen. Ein strukturierteres Resultat als den von mir in kleiner Schrift vollgekritzelten DIN-A4-Zettel möchte ich hier präsentieren. Es mag vielleicht manchmal so klingen, als würde ich komplett überinterpretieren, aber der komplette Aufbau des Liedes als Gesamtkunstwerk verlangt so eine Interpretation.

Kontext

Um das Lied besser verstehen zu können, sollte man es zunächst in den Gesamtkontext des Albums, 22, A Million, einordnen. Jedes der 10 Lieder des Albums hat eine Zahl und ist, laut Eric Timothy Carlson, dem Designer hinter der Album-Art und den Videos, auch um diese herum entstanden. Das ist in der Tat sehr praktisch, um nach den einzelnen Liedern zu suchen, denn fast alle Titel beinhalten nicht-lateinische Zeichen, die sich schwer in eine Suchmaske eintippen lassen, wie ja auch 715 – CRΣΣKS. Das Album als Ganzes handelt von Liebe zu einer anderen Person und zu Gott, dem Verlust dieser Liebe beziehungsweise dem Verlust des Glaubens an Gott und Selbstfindung. Auch 715 – CRΣΣKS bietet Platz für beide dieser Deutungsweisen. Mal klingt eher der religiöse Glaubensaspekt durch, mal eher der Bezug zu einer endenden Beziehung. Wann immer ich also später auf den einen Aspekt eingehe (zum Beispiel Glauben), meine ich immer auch im übertragenen Sinn den anderen (also die Beziehung) – es ist sehr spannend, dass beide Lesarten sehr parallel funktionieren.

715 – CRΣΣKS ist das dritte Lied des Albums und markiert den Tiefpunkt der Lebens- und Glaubenskrise. Das drückt sich schon durch die minimale Besetzung des Stückes aus: Einzig Justin Vermonts Stimme, die sonst häufig im Falsett-Gesang auftritt, verzerrt durch eine Messina. Dieses Instrument wurde vom Studiotechniker Chris Messina entwickelt und kann Gesang live in Akkorde aufbrechen, was nicht nur diesem Lied furchtbar viele Möglichkeiten eröffnet. Die Verzerrung verstärkt sehr gut das Gefühl, das durch das Lied vermittelt wird – gerade in den Stellen, in denen es an seine Grenzen kommt, wenn die Stimme des Sängers bricht. 715 ist die Telefonvorwahl für Central und North Wisconsin, woher Justin Vermont stammt – also eine Metapher für Heimat.

Das Lyric-Video zu 715 – CRΣΣKS, dessen Betrachtung ich jedem Leser nur nahelegen kann, wurde, wie die anderen Videos auch, auf Initiative Justin Vernons von Designer Eric Timothy Carlson und Aaron Anderson entwickelt und produziert. Es kommt sehr minimalistisch daher: Man sieht, vor wechselnden Hintergrundbildern, die Eingabemaske eines Textverarbeitungsprogramms, in dem der Text getippt wird, wobei auch mal bearbeitet und kopiert wird. Das gibt so ein bisschen das Gefühl, jemandem beim Tagebuch-Schreiben zuzugucken. Rechts in der Mitte sieht man ein Symbol, das ich erst für ein asiatisches Schriftzeichen gehalten habe. In der Tat handelt es sich aber um eine Vermischung der drei Ziffern 715, wie sie so ähnlich auch für die anderen Titel und ihre Zahlen existiert. (Ich empfehle einen Blick in das Interview mit dem Designer, hier sind weite Teile des Artworks online.) Das Symbol wird verdeckt von der Zeichnung einer Schlange, die auf einem Stab liegt. Das Album spielt sehr stark mit auch biblischen Referenzen, daher kann man die Schlange durchaus als Symbol für den Teufel, die Sünde, das Schlechte sehen, das sich direkt auf 715, die Heimat, gelegt hat.

1. Strophe

“Down along the creek
I remember something”

Das Lied eröffnet mit dem Setting. Wir lernen, dass das Lied in weiten Teilen ein Rückblick ist, denn der Sänger erinnert sich – eine Zeile, die in den beiden folgenden Strophen an der gleichen Stelle wiederholt wird. Außerdem erfahren wir den Ort der Handlung: Entlang eines Baches, der hier sehr offensichtlich eine Metapher für den Fluss des Lebens ist.

“Her, the heron hurried away
When first I breeched that last Sunday”

Hier kommt erstmalig eine „sie“ ins Spiel, die wahlweise als geliebte Person oder als Gott verstanden werden kann. Metaphorisch wird sie hier als Reiher beschrieben, der unter anderem für Abgeschiedenheit steht – und eben dieser Reiher, sein Glaube, seine Liebe, fliegt davon. „to breech“ heißt übrigens „mit Hosen bekleiden“, was eine interessante Beschreibung eines Sonntags ist. Hier zeigt sich, dass für Bon Iver der Klang der Worte häufig wesentlich wichtiger ist als konkrete Bedeutung oder korrekte Grammatik, wie wir auch später sehen werden. Die phonetische Ähnlichkeit zu „to breach“, brechen oder verletzen, und zu „preach“, predigen, lässt aber noch andere Interpretationen zu: Der Protagonist selbst hat das Gefühl, jemanden verletzt zu haben oder eine Abmachung nicht gehalten zu haben. „preach“ passt hierbei sehr schön zum Sonntag, dem Tag der Messe, schließlich geht es ja hier auch um Gott. Wir stellen jedoch fest: Er tut etwas zum ersten Mal, und es wird nicht irgendein, sondern der letzte Sonntag sein.

Während der ersten Strophe sieht man im Hintergrund des Videos Pfirsiche. Die sind in der chinesischen Mythologie ein Symbol für Unsterblichkeit; ich glaube aber, dass hier relevanter ist, dass Pfirsiche im August, dem letzten ganzen Sommermonat, reif sind – und der Sommer ist ja häufig Metapher für den glücklichen Teil des Lebens, während der Herbst häufig als Weg zur Einsamkeit des Winters gesehen wird.

2. Strophe

“Low moon don the yellow road
I remember something”

Zunächst stellen wir fest, dass wir immer noch im Rückblick „remember“ sind. Die Yellow Road ist, wie ich lernen durfte, eine Referenz auf The Wonderful Wizard of Oz von L. Frank Baum. Dort ist sie Metapher für die Verlockungen von Abenteuern und die Hoffnungen der Protagonistin Dorothy – die aber nicht erfüllt werden können. Ein niedriger Mond übernimmt hier bei Bon Iver die Aufgabe, die Szene zu einer düsteren zu machen. „to don“ heißt übrigens „Kleidung anziehen“ – was immer hier also an Kleidungs-Metaphern abgeht, der Mond kleidet die Straße quasi in gespenstisches Licht.

“That leaving wasn’t easing all that heaving in my vines”

Diese Stelle klingt aufgrund ihrer Binnenreime einfach großartig. Zum Verständnis braucht man ein paar Vokabeln: „Easing“ bedeutet „lindern“, „heaving“ ist „heben“ oder „schwanken“, „vines“ sind „Reben“. Bezogen auf die Handlung scheint es sich hier um die Evaluation der eigenen Reaktion auf das Verlassen des Geliebten oder des Glaubens zu handeln: Weggehen hat eben nicht das Schwanken in der eigenen Persönlichkeit, hier metaphorisch Weinreben, stoppen können; die Gedanken holen ihn ein. Der Gegensatz „vor dem Schicksal davonlaufen“ gegen „sich dem Schicksal stellen“ wird hier referenziert – er wird später noch wichtig. Aber auch biographisch für Justin Vernon passt diese Textzeile. Der Erfolg der Vorgängeralben hatte ihn überwältigt. Ein guter Freund von ihm sagt, dass Musik immer Justin Vernons Traum gewesen sei, in dem er Ruhe gefunden habe. Der Erfolg jedoch habe diesen Traum aufgefressen, weil alle folgende Musik unter dem Leistungsdruck stehe, den Vorgängern gerecht zu werden. Insofern ist das komplette Album mit seinen Themen eine Verarbeitung dieser Ängste. In einem Interview berichtet Justin Vernon selbst über die Entstehungsgeschichte des Albums: Er sei außerhalb der touristischen Saison auf eine griechische Insel gefahren, um sich selbst zu finden, was überhaupt nicht geklappt habe, weil er auf der verlassenen Insel nur mit noch mehr Einsamkeit und Panik konfrontiert wurde. Die Weinreben, ebenso wie die griechischen Buchstaben im Titel (der übrigens schon so ähnlich klingt wie „greek“) spielen durchaus ein bisschen auf genau diese Geschichte an, in der Weggehen eben nicht geholfen hat.

“And as certain it is evening ‘as is NOW is not the Time’”

Das ist der erste Satz, der grammatikalisch so richtig kaputt ist. Daher habe ich hier nur ein paar sehr unzusammenhängende Gedanken zu dem Vers. Es ist offenbar Abend, also Tagesende; was jetzt noch wichtig ist, muss warten. Außerdem klingt gerade die wörtliche Rede wie ein trotziges „Nicht jetzt!“, von wem auch immer sie gesprochen wird. Wahnsinnig spannend ist auch hier die Großschreibung, die mit „NOW“ in Capslock aus dem „remember“ der Erinnerung auszubrechen versucht und „Time“ großgeschrieben eine besondere Bedeutung zumisst.

Im Hintergrund des Videos sehen wir dieses mal einen Basketballkorb vor einem Sonnenuntergang, wobei man den Korb nur in dem zusätzlichen Artwork komplett sehen kann. Wir haben also den Abend aus dem Text bildlich dargestellt, aber mit dem Korb auch irgendwo ein Element, dass ein Ziel ist, das getroffen werden muss, und das vielleicht den Erfolgsdruck verbildlicht.

3. Strophe

“Toiling with your blood
I remember something”

Wie bisher auch: Erinnerung. „to toil“ heißt „hart arbeiten“, „sich quälen“, und Blut könnte hier Metapher für die „Essenz“ einer Person, in diesem Fall die erstmalig direkt angesprochene geliebte Person sein. Blut ist in diesem Fall jedoch eine ziemlich starke Referenz auf Jesus, wodurch wir noch eine andere Bedeutung für das Blut erhalten: ein Opfer, dass die angesprochene erbracht hat, das ihm, dem Protagonisten, zu schaffen macht.

“In B, un—rationed kissing on a night second to last”

Es ist denkbar, dass es sich um ein Enjambement handelt und der Teil vor dem Komma somit zu „I remember something in B“ wird. Die Frage, was dieses „B“ bedeutet, ist schwer zu beantworten. Vermutungen reichen von „Tonart B [bzw. H]“ (er erinnert sich an beziehungsweise über ein Lied in H-Dur oder h-Moll an etwas) über „Berlin“ (oder jede beliebige andere Stadt, die mit B beginnt) bis hin zu „Apartment B“, also einer Raumnummer, in der die folgende Handlung stattgefunden haben könnte. Die Handlung selbst: Unvernünftiges Küssen, weil es sich aus nicht näher beschriebenen Gründen um die vorletzte gemeinsame Nacht handelt. Die phonetische Ähnlichkeit von „in B“ zu „it be“, also „es sei“, lässt vermuten, dass das Küssen vom Protagonisten gar nicht als unvernünftig angesehen wird, sondern von anderen nur so wahrgenommen wurde. Dazu passt, dass der Vers mitten im Wort „unrationed“ durch einen Geviertstrich – den Gedankenstrich im Englischen – unterbrochen wird. Mit der Zahl Zwei wird hier zusätzlich ein Motiv für die kommenden Verse gesetzt. Es ist die zweitletzte gemeinsame Nacht, B ist der zweite Buchstabe im Alphabet. Spannend ist, dass zumindest im Rückblick der Protagonist niemandem die Schuld für die kommende Trennung gibt; es scheint einfach Schicksal zu sein, dass die Beziehung (oder im übertragenen Sinne der am Ende nochmal unvernünftig exzessiv ausgelebte Glaube) in zwei Tagen zu Ende ist, und dass niemand etwas daran ändern kann, obwohl (oder vielleicht gerade weil) es allen Beteiligten klar ist – eine sehr fatalistische Sicht auf die Dinge.

“Finding both your hands as second sun came past the glass”

Mit „both“ und „second sun“ wird das Zweier-Motiv weitergeführt. Offensichtlich sind wie angekündigt zwei Nächte vergangen, die Sonne scheint ins Zimmer und kurz vor dem unvermeidlichen Abschied finden sich nochmal die Hände der Liebenden, was ja ein Symbol starker Verbundenheit ist und durch das Finden angedeutet eine Suche nach Sicherheit impliziert, die die Hände des anderen bilden. Die große Zahl an S-Lauten, sowie das Brechen der Stimme des Sängers und damit auch der Messina geben dieser Zeile besonderen Nachdruck.

“And oh, I know it felt right and I had you in my grasp”

Ganz offensichtlich versucht er hier, sie ein letztes Mal festzuhalten, auch wenn es ja, wie wir wissen, nichts gebracht hat. Interessant ist, dass „grasp“ gar nicht mal so eine physische Bedeutung hat, sondern eher im Kontext von „im Griff haben“ oder „unter Kontrolle haben“ verwendet wird. Und der Protagonist weiß um die negative moralische Implikation dieses „Festhaltens“, denn er spricht ganz bewusst von „it felt right“; es hat sich richtig angefühlt damals, war es aber reflektiert betrachtet gar nicht. Hier hat das Lied seinen ersten emotionalen Höhepunkt.

Im Hintergrund des Videos sieht man hier einen Reiher auf einer stilisierten Stange sitzen – ganz bewusst wird also hier die Verbindung hergestellt: „Nein, den Reiher kannst du nicht festhalten, kontrollieren, bändigen.“

4. Strophe

“Oh, then how we gonna cry?
Cause it once might not mean something?”

Etwas ruhiger geht es weiter. Wir haben zwar nicht mehr das „remember“, aber das „something“ klingt noch an die Vorgängerverse an. Die gestellte Frage ist eine recht simple: Wie können wir jetzt weinen, wenn es irgendwann vielleicht gar nichts mehr bedeutet? Der Verlust von Liebe/Beziehung oder Glauben ist im ersten Moment etwas, weshalb man trauern möchte. Allerdings wird der Verlust im Laufe der Zeit von ganz alleine weniger bedeutend. Der Partner oder der Glaube ist nämlich rational betrachtet erstmal weg – daran kann man nichts ändern (passend zu dem vorher angesprochenen Fatalismus) – und entfernt sich auch durch getrennte Lebenswelten nur noch weiter. Bis man irgendwann sagt „Das hätte eh nicht gepasst.“ oder sich fragt „Wie konnte ich das nur jemals glauben?“ Und weil man das schon jetzt weiß, ist es eigentlich unsinnig, zu trauern. Der Verlust wird also durch sein eigenes Eintreten irrelevant – eine interessante, und irgendwo auch sehr reflektierte Feststellung.

“Love, a second glance it is not something that we’ll need”

Das ist so ziemlich die einzig simple Aussage dieses Liedes hier. Er spricht seine geliebte Person, (Ex-)Partnerin oder eben übertragen Gott direkt an: Wir brauchen keinen zweiten Versuch. Es hat einfach keinen Sinn. Der „second glance“ führt einerseits das Zweier-Motiv aus der 3. Strophe fort und greift auch den dort angesprochenen Fatalismus wieder auf, dass niemand etwas daran ändern kann, weil die Gründe der Trennung (oder dem Abfallen vom Glauben) vom Schicksal bestimmt sind oder von außen kommen.

“Honey, understand that I have been left here in the reeds”

Auch hier haben wir mit „Honey“, also „Liebling“ wieder die direkte Ansprache. Es ist interessant zu bemerken, wie er sie immer noch mit „Love“ und „Honey“ anspricht, obwohl er weiß, dass es vorbei ist. Er bittet sie um Verständnis für seine Situation, dass er alleine und verlassen im Schilf („reeds“) ist. Das greift einerseits zurück auf dem „creek“ vom Anfang, bringt aber andererseits auch wieder eine Bibelreferenz ins Spiel: Moses wurde als Kind auch im Schilf zurückgelassen, von seiner eigenen Mutter. Die Waisenkind-Metapher spielt auch in anderen Liedern des Albums eine Rolle und drückt starke Ängste aus, von geliebten Menschen zurückgelassen zu werden. Durch „understand“ wirkt dieser Vers so, als versuche der Protagonist, sich zu rechtfertigen und zu entschuldigen, um damit ihr Weggehen zu verhindern – was emotional ja durchaus eine verständliche Reaktion ist, aber im krassen Widerspruch zu der rationalen Analyse zu Anfang der Strophe steht. Mit „I have been left“ bricht Justin Vernon bewusst sein eigenes Metrum („I’ve“ hätte gepasst) und verlängert den Vers durch die Extra-Silbe, um ihm besonderen Fokus zu geben und den kommenden zweiten Höhepunkt des Liedes im nächsten Vers etwas zu retardieren.

“But all I’m trying to do is get my feet out from the crease”

Aussage: Der Protagonist versucht doch nur, sich aus der „crease“, der „Falte“, dem „Knick“, freizukämpfen, doch es gelingt ihm nicht und ist vielleicht sogar der Grund dafür, dass sie ihn verlässt. Spannend ist hier noch der Aspekt, dass das „crease“ im Cricket ein sicherer Ort ist, an dem man nicht angegriffen werden kann – es geht also hier auch darum, aus seiner eigenen Komfortzone herauszukommen.

Im Hintergrund des Videos sieht man während dieser Strophe bunte Lichtschlenker wie bei alten Bildschirmschonern, die das erste bewegte Hintergrundbild sind, allerdings ruckeln und springen. Was auch immer die Linien darstellen sollen (Gedankengänge vielleicht?); es ist jedenfalls düsterer als die bisherigen Bilder, passend zu dem düstereren textlichen Inhalt.

5. Strophe

“And I see you”

Dieser Vers kommt ganz ruhig nach dem vorigen Höhepunkt und bricht ebenfalls mit dem bisherigen Erzählstil des Liedes: Bislang hatten wir ja Rückblick, „remember“, jetzt sind wir wieder in der Gegenwart, in der der Protagonist sie, seine ehemalige Partnerin, seinen ehemaligen Gott, zum letzten Mal sieht und, in Capslock, anfleht:

“Turn around, you’re my A-Team”

Dreh dich um, du bist meine letzte Rettung. Das A-Team aus der Fernsehserie der 80er an dieser Stelle Metapher für den Helfer und Retter in der Not, der gerade weggeht. In der Wiederholung steigert sich dieser Vers von Bitten über Flehen zu Fluchen („god damn“) und wird immer verzweifelter. Das steht im Kontrast zu den aufsteigenden Herzen, die im Hintergrund des Videos zu sehen sind und eigentlich Hoffnung verbreiten. Die „Umdrehen“-Situation kann natürlich auch wieder als Referenz gesehen werden: Einerseits erinnern wir uns an die Zerstörung von Sodom und Gomorrha in der Bibel, bei der Lots Frau, weil sie sich umdreht, um auf die Städte zu blicken, zur Salzsäule erstarrt. Andererseits kennen wir auch die griechische Orpheussage: Eurydike, die Ehefrau des Sängers Orpheus, stirbt und kommt in die Unterwelt; er will sie retten und schafft das mithilfe seines Gesangs auch, dreht sich jedoch auf den letzten Metern um und deswegen muss sie doch in der Unterwelt bleiben. Vielleicht ist Umdrehen also auch für sie, die sie weggeht, ein Fehler – was wieder den fatalistischen Aspekt der Unvermeidlichkeit der Trennung beleuchtet.

Und dann endet das Lied ganz abrupt, unerwartet und vor allem absolut unbefriedigend. Das Lied tut genau das, was die geliebte Person des Protagonisten tut: einfach weggehen. Und das ist auch sinnvoll, wie gesagt, 715 – CRΣΣKS ist der moralische Tiefpunkt des Albums.

Das Video hat noch ein, zwei Schlussbilder: Es werden mehr Herzen über den Texteditor eingeblendet, man sieht das Logo des Liedes in groß und der Schriftzug „Deus Ex Messina“ wird als Banner dargestellt. Wir erinnern uns, die Messina ist das verwendete Instrument; der Rest ist eine Anspielung auf „Deus ex Machina“, ein Element des römischen Theaters, bei dem ein Gott die eigentlich unrettbar verloren scheinende Situation doch noch zum Guten wendet; der Gott wird dabei durch Maschinen im Theater umgesetzt. Heute ist „Deus ex Machina“ häufig ein abwertender Ausdruck dafür, dass eine Situation vom Autor doch eher unkreativ aufgelöst wurde. Und das ist ja eigentlich das, was der Protagonist hier möchte: dass eine übermenschliche Kraft, sei es Gott oder die Person, die er liebt, zurückkommt und ihn rettet. Es ist wieder der Widerspruch zwischen dem emotionalen Wunsch und dem rational reflektierten Denken.

Ganz kurz sieht man zum Schluss noch das Titelbild zum Lyric-Video des nachfolgenden Liedes 33 “GOD”.

Fazit

Ich für meinen Teil halte fest, dass dieses Lied sehr viele Dinge in großer Tiefe aussagt, und dass es das auf eine künstlerisch sehr breite Weise tut. Je häufiger ich das Lied höre, desto besser finde ich es auch und desto besser glaube ich, es fassen zu können.

Das gesamte Album geht inhaltlich in seiner Selbstfindung noch ein paar Schritte weiter. Irgendwann obsiegt das Rationale, und der Protagonist läuft nicht mehr von seinem Schicksal davon, sondern stellt sich ihm. Und trotzdem kommt das Album zu einem interessanten Schluss: Selbstfindung ist vielleicht gar nicht vollends möglich, und wir werden immer irgendwo unvollkommene Personen sein.

Aber das ist okay.


Titelbild: William Haun (CC BY-NC 2.0)
Ebenfalls erschienen im Neologismus 16-10

Mehr lesen