Die verpasste Debatte
Warum die Diskussion zur Flüchtlingskrise so kompliziert istEs war das Jahr der Krise. Was Dieter Nuhr schon für 2009, das Jahr der Banken- und Finanzkrise gesagt hat, trifft auch auf dieses Jahr zu. Und wir wären ja gut bedient, wenn es nur eine Krise gewesen wäre. Noch diesen Sommer haben wir uns über einen ausgestreckten Mittelfinger im Ersten Deutschen Fernsehen gestritten, als sei die Schuldenkrise eines kleinen Staates am Mittelmeer unsere größte Sorge. Oder der davor (und immer noch) dahinschwelende BND- bzw. NSA-Skandal, oder die Verstrickungen um den Nationalsozialistischen Untergrund.
Und während wir uns eben, im Herbst, noch um den großen, (immer noch) nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen Richtung Europa und Deutschland gesorgt haben, hat sich das Krisenrad schon wieder weitergedreht: Schließlich muss mal wieder die Klimakrise gelöst und, wichtiger noch, Krieg gegen den Terror geführt werden.
Unsere Gesellschaft dauerhaft am größten prägen wird allerdings die Flüchtlingskrise. Und obwohl die Debatte zur Flüchtlingssituation inzwischen nicht mehr mit der Härte und Öffentlichkeit geführt wird, so hat sie doch ein großes Problem: Sie liegt und lag schon immer in der Vergangenheit; wir haben sie schon seit Jahren verpasst.
Die wesentlichen Fluchtgründe, der (Bürger-)Krieg in Syrien und angrenzenden Regionen, bestehen schon länger, sodass eigentlich niemand überrascht sein sollte – zumal die deutsche Waffenexport-Politik zumindest indirekt die Auseinandersetzungen befeuert hat. Die aufkommende Flüchtlingswelle wurde übersehen, vergessen, vielleicht auch ignoriert. Den langen Schlangen am LaGeSo in Berlin oder anderswo hätte schon viel früher mit erheblicher Personalaufstockung begegnet werden können – so plötzlich werden keine Entscheider aus dem Nichts auftauchen können.
Doch auch in ganz anderen Bereichen, die mit der Flüchtlingssituation eher weniger zusammenhängen, hätte vorgesorgt werden können, viel früher diskutiert werden müssen, damit jetzt keine Debatte auf Kosten von unter tragischen Umständen aus ihren Heimatländern geflohenen Menschen geführt werden müsste.
Wenn in einem der reichsten Länder der Welt und dem wirtschaftlich erfolgreichsten Land Europas darüber diskutiert wird, dass die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen eine Kürzung von Staatsleistungen gegenüber der eigenen Bevölkerung irgendwann notwendig machen wird, wurde schon in vergangenen Jahren verpasst, diese Leistungen sinnvoll aufzubauen und nachhaltig zu stützen. Angst um unsere Obdachlosen und öffentlichen Schwimmbäder würde nicht herrschen, wenn die Leistungen in der Vergangenheit zu einem so hohen Niveau geführt hätten, dass (unwahrscheinliche,) kleinere Leistungskürzungen heute keine signifikanten Auswirkungen auf den Alltag hätten.
Gleiches gilt für die Angst um unsere Sozialsysteme von Rente bis Hartz 4. Wenn die Angst vor subtiler Kürzung1 schon Angst vor dem Rutschen unter irgendein Existenzminimum bedeutet, haben wir in vergangenen Jahren bei diesen Sozialsystemen etwas falsch gemacht.
Wenn darüber diskutiert wird, dass Kommunen und Städte keine vernünftigen, winterfesten Unterkünfte für Flüchtlinge organisieren können, hätte man eigentlich schon in den letzten Legislaturperioden darüber diskutieren müssen, wie wir für die Gesamtheit der Bevölkerung gerade in Städten bezahlbaren Wohnraum schaffen können, der dann auch jetzt hätte genutzt werden können.
Und schließlich sind da noch die Menschen, die in der aktuellen Debatte nicht mit den qualifiziertesten, sondern leider mit den lautesten Aussagen (hoffentlich) überproportional präsent sind. Wenn wir über die Grausamkeit einzelner Fälle von Vergewaltigung durch Flüchtlinge diskutieren, haben wir in der Vergangenheit versäumt, über die wesentlich häufigeren grausamen Einzelfälle von Vergewaltigung durch, ja, deutsche Bürger im engeren Familienkreis zu diskutieren.
Und wenn darüber diskutiert wird, dass wir bei weiterer Einwanderung unsere Heimat verlieren und an Weihnachten in die Moschee gehen müssen, dann haben wir offensichtlich in unserem Bildungssystem vor vielen Jahren schon etwas katastrophal falsch gemacht.
Neben diesen Punkten gibt es bestimmt noch weitere Diskussionen, die in der Vergangenheit hätten geführt werden müssen, und deren Konsequenzen jetzt irgendwie in die Flüchtlingsproblematik reinspielen. Dadurch ist es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, diese Themen jetzt sinnvoll abzuarbeiten.
Es gibt viele Menschen, die durchaus begründet sagen, dass man, zum Beispiel für sinnvolle Integration der Flüchtlinge, die Einwanderung begrenzen sollte. Man sagt auch, „Wir müssen uns der Realität beugen; wir können nicht alle gleichzeitig integrieren.“ Das ist auch ein irgendwo verständliches und vielleicht richtiges Argument, dem ich zustimmen würde, wären nicht die Politiker, die eben diese Begrenzung jetzt fordern, genau die Politiker, die die obigen Debatten in der Vergangenheit nicht geführt haben.
Wir als Gesellschaft haben also die Wahl zwischen zwei Wegen: Es gibt die leichte Alternative, die, anstatt die zu Grunde liegenden Probleme zu lösen, Leistungen für Flüchtlinge kürzt oder gleich die Zahl der abzuschiebenden bzw. abgeschobenen Flüchtlinge erhöht. Die Alternative, die unter dem Vorwand, einen kräftigen Rechtsruck zu verhindern, wenn die Stimmung in der Bevölkerung kippt, einen schleichenden Rechtsdruck etabliert. Oder wir entscheiden uns für einen komplizierteren Weg. Der wird auf längere Zeit zu Reibungen und Herausforderungen führen, aber, da er das ein oder andere grundlegende gesellschaftliche Problem löst, langfristig der bessere sein.
Denn bei ca. 4 Millionen Hartz-4-Empfängern und 19 Millionen Rentnern gegenüber grob geschätzten 1 Millionen Flüchtlingen für 2015 ist das nur subtil ↩︎