Dienstag

Ich gehe die Treppe herunter. Ein dunkler Hut kommt mir entgegen. „Morgen“, sagt der Hut. „Morgen“, sage ich. Ich krame in meiner Tasche nach einem Schirm. Plötzlich wippt ein blonder Haarschopf vorbei. „Morgen“, rufe ich dem Haarschopf hinterher. Der Haarschopf wippt unbeirrt weiter.

„WWP!“, macht meine Hosentasche. „Morgen“, sage ich ihr, und stelle sie stumm. Regen tropft von meinem Schirm auf die nasse Straße. Eine dunkelhaarige Frau lehnt an der Laterne und blickt mich stumm, aber freundlich lächelnd an. „Morgen“, sage ich der Frau. Die Frau blickt mir stumm hinterher. Ich drehe mich langsam zu ihr um. „Willst du mir nicht irgendwas sagen?“, frage ich die Frau. Sie bleibt stumm.

Nicht jedoch der kleine Mann im grauen Anzug mit der blauen Krawatte, der eine Laterne weiter steht. Er scheint fast ein bisschen zu hüpfen, während er mit einer kleinen Spielzeugschranke wedelt und ohne die übliche Begrüßung laut skandiert: „Asylchaos stoppen! Asylchaos stoppen!“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, erwidere ein sehr sachliches „Morgen“, und gehe weiter. Manchmal wünsche ich mir dann doch, dass alle Menschen so still sind, wie die dunkelhaarige Dame von eben.

An der Ecke lehnt eine blonde Frau, deren stummer Blick starr durch die vorbeihuschenden Mäntel hindurchschaut, trotz seiner Unfokussiertheit doch nicht abwesend wirkend. Ich betrachte sie näher. Sie würdigt mich mit keiner Erklärung ihrer Anwesenheit. „Na immerhin an der Haarfarbe kann man sie unterscheiden“, denke ich und gehe weiter.

Ich betrete einen grauen Tunnel voller hektischer Beine. Abfahrt 7:27 Uhr, Gleis 8. Bis dahin? Warten und Raten. Welcher Prominente ist hier abgebildet? Puzzlestück um Puzzlestück fällt und entblößt die Wahrheit. „Morgen“, nicke ich dem Monitor zu, den sonst niemand beachtet.

Stotternd setzt sich die Bahn in Bewegung. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts; Ausstieg in Fahrtrichtung rechts, Ausstieg in Fahrtrichtung links. Die einsame Sitzbank hinter mir redet mit sich selbst. Ich wüsste gerne, was sie denkt, aber höre nur unverständliches, gemischt mit Fluchen und dem Geruch von Alkohol. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Die Stimme torkelt aus der Tür. Warum müssen eigentlich immer die verrückten Leute Bahn fahren? Ein Piepen schließt die Tür. Die Bahn fährt wieder los; ich in ihr. Nächster Halt in Fahrtrichtung rechts. Mein Ausstieg.

Am Bahnsteig steht ein Wagen mit verschiedenen Schriftstücken einer Glaubensgemeinschaft. Ein Leben voller Glück – Wie ist das möglich? Die Zukunft – Wie sieht sie aus? Höre auf, Gott! Ich grüße den Wagen lieber nicht; nachher will mich Gott in ein Gespräch verwickeln, und dafür habe ich keine Zeit.

Schließlich habe ich zu tun. Schiebetür, Sicherheitsschleuse, Aufzug, Kaffeevollautomat, Treppe, Tür, Großraumbüro. „Morgen“, sage ich zu dem Lichtschalter, mit dem ich den verlassenen Raum illuminiere. Laptop aufklappen. Unten rechts, eine Erinnerung. Mail an bla verfassen.

Naja… morgen


Ebenfalls erschienen im Neologismus 16-02

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