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Über Schicksal, freien Willen, und warum wir die falschen Fragen stellen

Küchenphilosophie Teil 1

Es wäre eine Untertreibung, zu behaupten, im Neologismus sei wenig philosophiert wurden. Gerade die ersten Ausgaben sind voll von (faszinierenden) philosophischen Artikeln unseres Chefredakteurs, die er zwar inzwischen für viel zu unqualifiziert hält, die ich aber manchmal gerne noch lese. Und es gibt dann auch Momente, in denen ich gerne mal selbst meinen Senf dazugeben würde – schließlich lebt Philosophie(ren) von Diskussion. Um den fachlichen Anspruch an mich selbst nicht zu hoch zu legen, soll die (unregelmäßig) erscheinende Reihe unter dem Untertitel „Küchenphilosophie“ laufen, und die Themen mit etwas laxeren Herangehensweisen betrachten. Dabei werde ich, neben Physikern und Philosophen, auch einige popkulturellen Referenzen zur Verdeutlichung verwenden.

In dieser ersten Ausgabe möchte ich mich der Frage nach freiem Willen und Schicksal widmen, die im Neologismus ja schon fast zu oft gestellt, diskutiert und nicht abschließend beantwortet wurde.

Dualismus vs Materialismus

Die Diskussion um freien Willen lässt sich auf die beiden Sichtweisen Dualismus und Materialismus herunterbrechen. Die Dualisten, häufig Geisteswissenschaftler, gehen davon aus, dass der menschliche Geist etwas von der materiellen Welt Grundverschiedenes und insbesondere nicht von ihren Beschränkungen betroffen ist. Umgekehrt kann der Geist die Wirklichkeit beeinflussen – an dieser Stelle haben wir freien Willen. Bedeutende Vertreter sind Platon oder Kant, aber auch unser Chefredakteur Florian Kranhold in seinem Artikel Abolitum Arbitrium.

Die Materialisten kommen häufig aus dem naturwissenschaftlichem Umfeld und verneinen eine solche Trennung: Der Geist und das Denken sind eben nicht losgelöst von der materiellen Welt; ganz im Gegenteil formt und bestimmt diese durch ihre Gesetzmäßigkeiten das Denken. Der Biologe, zum Beispiel Jannik Buhr in seinem Artikel Liberum Arbitrium, sagt: „Wir [sind] nichts weiter als eine Ansammlung von Zellen und unser Denken ist eine Verschaltung von Nervenzellen. Über die Jahre hat die Wissenschaft herausgefunden, wie Nerven Signale weiterleiten und verrechnen, was die Vermutung nahelegt, dass wir nichts weiter sind als eine ‚biologische Maschine‘.“ Freier Wille ist hier (zumindest im klassischen Sinne) nicht möglich.

Was sagt der Physiker?

Physik ist bis zur 10. Klasse relativ einfach. Man macht ein paar Experimente, hat sichere Beobachtungen, leitet feste Regeln ab. „Wenn ich einen Gegenstand auf der Erde fallen lasse, beschleunigt er in Richtung Erdmittelpunkt mit etwa 9,81m/s².“ – „Spannung ist das Produkt aus Widerstand und Stromstärke.“1 – und so weiter und so fort. Man wächst in dem Glauben auf, hat man nur genügend Wissen über die Welt, genügend Formeln und ausreichend Zeit für Nebenrechnungen (graphischer Taschenrechner erlaubt), kann man exakt vorherbestimmen, was passiert. In der beliebten Serie Per Anhalter durch die Galaxis wird diese Idee auf die Spitze getrieben: „Da auf jedes Materieteilchem im Universum in irgendeiner Weise alle anderen Materieteilchen im Universum einwirken, ist es theoretisch möglich, die Gesamtheit der Schöpfung – jede Sonne, jeden Planeten, ihre Umlaufbahnen, ihre Zusammensetzung und ihre Wirtschafts- und Sozialgeschichte aus, sagen wir mal zum Beispiel, einem kleinen Stück Punschtorte zu extrahieren.“2 – was irgendein Wissenschaftler dann natürlich macht. Der Verlauf von Zeit und Raum ist komplett vorherbestimmbar, also vorherbestimmt – deterministisch – freier Wille ist nicht möglich. Selbst wenn er irgendwo losgelöst existiert, kann er keinen Einfluss auf die materielle Welt nehmen. Der Dualist flucht und wählt Physik ab.

Naturkonstanten

Aber so vorschnell sollten wir nicht mit der Physik abschließen. Denn auch wenn ihre empirisch validierten Ergebnisse nach Ansicht vieler die rein theoretische Begründung der Dualisten übertrumpft, erklärt die Physik nicht ihren Ursprung, insbesondere nicht den von zum Beispiel Naturkonstanten. Warum fällt der Apfel der Erkenntnis mit einer Beschleunigung von 9,81m/s², und nicht mit 9,5m/s²? Warum ist die Lichtgeschwindigkeit gerade 299.792.458m/s² und nicht exakt 300.000.000m/s² – das wäre doch ein viel schönerer Wert? Letztendlich lassen sich doch beliebig viele beliebig kleine Änderungen an jeder Naturkonstanten vornehmen, und somit beliebig viele unendlich kleine Auswirkungen in der Realität beeinflussen. Was, wenn eine „Geisteswelt“, wie sie die Dualisten fordern, genau so Auswirkungen auf die Welt haben kann – dann wären freier Wille und Schicksal nicht mehr gegensätzliche Begriffe, sondern zwei Seiten der selben Medaille. Ein bisschen peppiger wird diese Aussage im Spielfilm Matrix getroffen: „Du hast dich bereits entschieden – jetzt musst du nur noch verstehen, warum.“

Mit den Naturkonstanten lässt sich ein weiteres Phänomen ganz spaßig erklären. Bekannt ist, dass unsere Welt dreidimensional ist: x-, y- und z-Achse, in deren Aufspann sich der Mensch frei bewegen kann. Physiker konstruieren die Zeit als vierte Dimension dazu, auf der der Mensch sich nur vorwärts bewegen kann. Seit Einstein wissen wir, dass diese vier Dimensionen zusätzlich relativ sind, aber das soll hier nicht weiter interessieren. Viel spannender wird es, wenn wir die Naturkonstanten unseres Universums ebenfalls auf endlich vielen Dimensionen abbilden, durch die wir uns als Menschen potentiell gar nicht bewegen können. Wir befinden uns gerade einfach in dem Universum, in dem die Naturkonstanten so und nicht anders sind, ein paar Schritte weiter auf den entsprechenden Achsen sehen die Konstanten anders aus, und somit auch das Universum. Aber wenn man nur kleine Schritte geht, verändert sich vielleicht nicht alles, sondern subtile Dinge, nur einzelne getroffene Entscheidungen. Für jede Entscheidung jedes Menschen gibt es dann ein (Parallel-)Universum, ja es gibt eines für jeden denkbaren (und nicht denkbaren) Zustand und alle seine Entwicklungsmöglichkeiten. Man spricht hier von der Multiversumstheorie, die den blöden Nachteil hat, dass sie nicht bewiesen werden kann. Aber wenn man die Gedankengänge zum freien Willen mit ihr verbindet, erhält man auf die in Bezug auf die Multiversumstheorie häufig gestellte Frage „Aber wie entscheidet sich, dass wir gerade in diesem Universum sind und nicht in einem beliebigen anderen?“ die faszinierende Antwort „Weil wir uns so entschieden haben“3 – was ich hochgradig spannend finde.

Quantenphysik

Leider bleibt es in der Physik nicht so einfach deterministisch, wie man es in der Mittelstufe vermittelt bekommt. Sobald man in der Oberstufe atomaren Zerfall und Quantenphysik beleuchtet, stellt man fest, dass manche Vorgänge weder berechenbar noch überhaupt messbar sind. Nach unserem heutigen Kenntnisstand wird es niemals möglich sein, zu berechnen, welches Atom als nächstes zerfällt – echter Zufall. Schlimmer noch, die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass es prinzipiell unmöglich ist, auf einer gewissen Ebene genaue Messungen durchzuführen. Das auf der großen, makroskopischen Ebene so berechenbar erscheinende Universum entzieht sich im Kleinen jedem Zugriff.

Diese „Lücken“ im deterministischen Weltbild lassen sich jetzt durch vieles füllen. Vielleicht wirkt der freie Wille des Menschen genau durch diesen in die Welt hinein – man weiß es nicht. Vielleicht wirkt auch Gott, ein göttliches Wesen oder ein gottesähnliches Konzept dadurch. Oder schlicht Zufall. Ab hier ist eigentlich nur noch die Frage, wie man es nennen möchte.

Die falsche Frage

Die Physik gibt also auch keine klare Antwort auf die Existenz von freiem Willen; wir sind wieder am Anfang. Dennoch möchte ich die Frage stellen, ob es überhaupt einen praktischen Unterschied macht, ob der Mensch jetzt echten freien Willen hat, oder ob dieser nicht existiert und höchstens Einbildung der Menschen ist.

Im Deutsch-Unterricht haben wir dazu anhand von Ausschnitten aus Nietzsches Werk Götzen-Dämmerung eine interessante Diskussion geführt. Nietzsche argumentiert ebenfalls auf der Seite der Materialisten, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Mein damaliger Lehrer stand Nietzsche entgegen, und hat gefragt, was uns denn dann an moralische Standards bindet, was uns daran hindert, jetzt amoralische Dinge zu tun, was unsere Zivilisation aufrechterhält – wenn es nicht freier Wille wäre, der uns an objektive moralischen Standards binden würde.

Der Punkt ist: Nichts hindert uns daran. Aber umgekehrt: Wenn wir einen freien Willen haben, was würde uns dann daran hindern, wo wir uns doch frei dafür entscheiden könnten. In der Theorie wäre es vielleicht ganz nett, mit Sicherheit zu wissen, ob unser freier Wille wirklich frei ist oder ob unsere Entscheidungen in der materiellen Welt verhaftet sind. In der Praxis jedoch ist es vollkommen egal, ob ein echter oder ein eingebildeter freier Wille die Entscheidung getroffen hat – ob mein wirklich existenter freier Wille sich an moralische Standards hält, weil er sich so entschieden hat, oder ob mein eingebildeter freier Wille das nur zufällig tut, weil eine mehr oder weniger deterministische Welt ihn dazu zwingt.

Und genauso wird auch jede Frage nach Schicksal irrelevant, das letztendlich nur eine andere Seite der Medaille ist. Viel relevanter ist nur die Frage, in welchem Rahmen unsere Entscheidungen, wie immer sie zustande gekommen sind, Einfluss auf die Realität haben können – und wie unsere Entscheidungen von denen anderer beeinflusst werden.

Mir persönlich ist relativ egal, ob da jetzt freier Wille wirkt oder schlicht logische, physikalische Kausalität – ich weiß, welche Menschen mich geprägt haben, woher ich meine Werte nehme, und auch, warum ich welche Entscheidungen getroffen habe. Und ich weiß genauso, dass umgekehrt auch meine Entscheidungen und damit Handlungen Auswirkungen auf das Leben vieler anderer Menschen haben. Es ist mir auch egal, ob da auf einer Quanten-Ebene Gott Einfluss auf die Realität nimmt, oder ob das schlicht Zufall ist – ich weiß, dass mich das nicht der Macht meiner Entscheidungen beraubt, die nämlich immer noch relevant sind.

Dennoch glaube ich, dass andere Menschen diese Fragen anders und vielleicht weitaus pessimistischer beantworten würden – und wie eine solche Antwort im Detail ausfällt, sagt dann wiederum viel über diese Menschen aus!

Es tut mir ein bisschen Leid, dass ich in eine Meta-Debatte abgleite, und bevor hier aus Küchen-Philosophie Küchen-Psychologie wird, möchte ich diese Episode mit dem Aufruf beenden, sich selbst mal Gedanken zu dem Themenkomplex zu machen – gerne über die Frage, ob es freien Willen gibt, aber wichtiger noch darüber, welchen Einfluss unsere Entscheidungen haben (können).

Und dann freue ich mich darauf, in einer der nächsten Ausgaben ein bisschen über Erkenntnistheorie zu philosophieren.


  1. Conditions may apply. ↩︎

  2. Douglas Adams: Das Restaurant am Ende des Universums, S. 77f. ↩︎

  3. Zumindest mit gewissen Einschränkungen. Ich bitte auch das anthropische Prinzip zu beachten: „Jedes intelligente Lebewesen, welches ist, kann sich selbst nur dort vorfinden, wo intelligentes Leben möglich ist.“ (John Leslie) ↩︎


Ebenfalls erschienen im Neologismus 16-11

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