Einmal Europa bitte!
Eindrücke von einer DemonstrationJeden Sonntagmittag um 14 Uhr findet in Karlsruhe, wie in vielen anderen Städten in Deutschland und dem Rest von Europa auch, eine Pulse of Europe-Demonstration statt. Es fällt mir immer ein bisschen schwer, in Worte zu fassen, worum es da genau geht, ohne komisch zu klingen. „Pulse of Europe ist eine Bewegung der bürgerlichen Mitte für ein einiges Europa“ ist die beste Definition, die mir so spontan eingefallen ist. Wikipedia definiert die Aktionen so: „Pulse of Europe ist eine 2016 in Frankfurt am Main gegründete überparteiliche und unabhängige Bürgerinitiative mit dem Ziel, den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar (zu) machen.“
Wirkliche Beachtung hat die Aktion Anfang des Monats gewonnen – einzelne meiner Follower auf Twitter haben Bilder mit dem Hashtag #PulseOfEurope aus Bonn gepostet, und in dem Moment war ich schon daran interessiert, ob diese Veranstaltung auch in Karlsruhe existiert. Sogar die Tagesthemen haben abends über die Aktion berichtet. Und so war es nur eine Frage der Zeit – nämlich „wann ist das nächste Mal Sonntag“ – bis ich auch die Demonstration besuchen würde.
Parallelen
Auf dem Weg zum Veranstaltungsort, dem Platz der Grundrechte, musste ich zurückdenken an eine ähnliche Situation vor zwei Jahren. Die Pegida-Spaziergänge waren gerade groß im Kommen, hier in Karlsruhe heißt der Ableger inzwischen „Karlsruhe wehrt sich“ und wird als radikaler als das Dresdner Vorbild eingeschätzt. Damals bin ich mit einem Kommilitonen auch aus Interesse an der Situation und den Gegendemonstranten zum Europaplatz gegangen. Einzelheiten kann man im Artikel von damals nachlesen, aber ein paar Dinge seien hier nochmal gesagt:
Die Spaziergänge fanden und finden immer Montagabends statt – vor der Zeitumstellung dunkel und irgendwie kalt und bedrohlich. Nach den Erfahrungen der vorigen Wochen war damals viel Polizei anwesend, die Demonstranten und Gegendemonstranten voneinander trennen sollte. Beamte in Schutzausrüstung, die bei mir irgendwie eher für Unruhe anstelle eines Gefühls von Sicherheit gesorgt haben. Letztendlich sind wir nur auf Seite der Gegendemonstranten gewesen und gar nicht zu den Pegidisten durchgekommen – was ich irgendwo schade fand, weil ich mich gerne inhaltlich mit ihren Positionen auseinandergesetzt hätte. Was sagen sie? Ist das fundiert? Kann ich argumentativ vielleicht Widersprüche aus ein paar Anwesenden herauskitzeln, oder muss ich einigen Punkten vielleicht sogar zustimmen?1 Letztendlich haben aber die Trommeln der Gegendemonstranten die Reden der Pegida-Anhänger übertönt; einzig Fetzen der deutschen Nationalhymne sind bis zu mir und meinem Kommilitonen durchgedrungen.
Aber das sollte dieses Mal anders sein. Auch wenn das Wetter am Wochenende zuvor wesentlich besser gewesen war, war es – schlicht der Tageszeit geschuldet – angenehm und beruhigend hell. Die Grundstimmung war eine ganz andere, mit den Menschen, die einfach ihr Wochenende in der Innenstadt und am Karlsruher Schloss genießen. Und dazwischen die kleine Demonstration, für die eigentlich eine bessere Bezeichnung gefunden werden müsste. Denn es gab keine Transparente oder Parolen skandierende Demonstranten – im Gegenteil. Man wurde begrüßt von einer netten Frau, die eine kleine Europa-Fahne aus Plastik und Schoko-Taler mit EU-Logo drauf verteilt hat.2 Anwesend waren Menschen aller Altersklassen, Studenten, Rentner mit ihren Enkeln, Familien, sogar ein Säugling eingewickelt in eine Europa-Fahne schlafend am Bauch seines Vaters. Am Rand hat man Plakate aufgehängt und daneben ein paar Eddings: „Europa ist für mich…“ – „Das kann Europa gut…“ – „Wir brauchen Europa, weil…“. Und die Leute haben Dinge aufgeschrieben, von offenen Grenzen über Menschenrechte und Humanismus bis hin zu Wirtschaftsmacht und freiem Handel.
Pulsschlag
Ein paar Minuten später eröffnete die Veranstaltung, indem die Pulse-of-Europe-Hymne gesungen wurde. Das war einer der wenigen Momente, in denen ich Angst hatte, dass die Veranstaltung zu dem Techno-Event wird, nach dem der Name klingt. Aber nein, alles vollkommen okay. Man hatte den Text zum Mitsingen ausgedruckt, auch wenn nur wenige das getan haben – viele waren neu hier, nachdem die Aktion in der letzten Woche so viel Aufmerksamkeit durch die Medien erfahren hatte, und dementsprechend (wie ich auch) mit der Melodie überfordert.
Dann wurde von zentraler Stelle etwas über die Wahlergebnisse in den Niederlanden gesagt, die positiv gewertet wurden. Auf einer Liste wurden sie abgehakt, nächster Punkt die Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Außerdem wurden die 10 Grundthesen der Veranstaltung vorgetragen, die ich hier kurz kommentieren möchte:
Natürlich sind das jetzt teilweise pathetisch formulierte Ziele. „Für Europa geht es jetzt um alles!“ „Wer in Frieden leben will, muss sich für Europa stark machen.“ „Der europäische Pulsschlag muss wieder spürbar werden.“ Keinesfalls sind sie widerspruchsfrei: Einerseits sagt man, Europa dürfe sich „nicht spalten lassen“, andererseits spricht man von „antieuropäischen Kräfte[n]“, die es zu bekämpfen gelte, und wer nicht mit Nachdruck für Europa sei, sei gegen Europa. Man kann sogar auf inhaltlicher Ebene widersprechen: „Die Europäische Union war und ist in erster Linie ein Bündnis zur Sicherung des Friedens.“ Aha? Und ich dachte immer, es sei damals bei der EWG um die Montanindustrie gegangen.
Wahrscheinlich ist es letztlich ganz gut, dass Demonstrationsteilnehmer die genauen Thesen der Organisatoren in der schriftlichen Fassung nie so wirklich vollständig ernst nehmen. Aber grundsätzlich werden auch einige richtige Dinge gesagt: Ja, bei den vergangenen, aktuellen und kommenden Wahlen waren und sind rechte, populistische, europa-kritische bzw. antieuropäische Parteien eine nicht zu vernachlässigende Kraft, die die Europäische Union, wie wir sie kennen, bedrohen. Ja, es ist wichtig, dass sich eine eventuell schweigende Mehrheit Gehör verschafft und insbesondere bei den Wahlen ihre Meinung zeigt – das Stichwort „Aufstand der Anständigen“ mit dem viralen Video vom vorletzten Sommer ist hier angebracht. Ja, Grundrechte, Rechtsstaat und europäische Grundfreiheiten sind wichtige zivilisatorische Errungenschaften, die wir nicht aufgeben sollten.
Dass Reformen notwendig sind, ist angesichts der aktuellen Lage auch schwer zu leugnen. Auch an der Aussage, „Wer austritt, kann nicht mitgestalten“ ist viel Wahres dran. Und hier hat der Vortragende bei uns den wichtigen Punkt hinzugefügt, dass dafür allerdings eine breite, konstruktive gesellschaftliche Debatte notwendig ist. Dass Vielfalt Herausforderung und Stärke zugleich ist, ist zunächst mal eine unpraktisch unspezifische Aussage, die wahrscheinlich aber einfach nicht fehlen durfte – ebenso wie die Aussage, die EU sei kein Selbstzweck. Dass die Demonstration selbst überparteilich und so sei, ist natürlich nett, aber auch etwas, das Pegida wahrscheinlich ebenfalls sagt.
Debatte
So viel man an den Zielen der Bewegung herumkritisieren kann, so wichtig ist jedoch die folgende Feststellung: Ich glaube, es ist sehr einfach, sich in der Ablehnung von etwas einig zu sein: „Wir sind gegen die EU“ – dafür gibt es sicher legitime Gründe. „Wir sind gegen Zuwanderung“ – auch dafür kann man vielleicht Argumente finden. „Wir sind gegen die da drüben, die gegen Zuwanderung und die EU sind“ – durchaus ein legitimes Anliegen, da widerspreche ich nicht. Bei Gegen ist es einfach, Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen und Veränderung der Umstände lautstark zu fordern. Für eine Sache zu sein, ist dagegen wesentlich komplizierter – man muss schließlich wissen, wofür man denn jetzt genau ist. Und das ist (gerade bei einem so komplexen Thema wie Europa) durchaus keine leichte Aufgabe, an der ein 10-Punkte-Programm, mit dem man eine Demonstration zusammenfassen möchte, vielleicht schon prinzipiell scheitern muss. Umgekehrt kann man aber dann einen Raum für konstruktive Diskussion schaffen, was ich wesentlich wertvoller als jede Dagegen-Demo finde.
Dementsprechend halte ich den darauffolgenden Teil für den wichtigsten der Veranstaltung: Das offene Mikrofon. Wenn du etwas zu sagen hast, was irgendwie mit dem Thema zu tun hat, kannst du an das Mikrofon gehen und es sagen. Das waren am Sonntag meiner Anwesenheit verschiedenste Sachen. Die Schilderung eines Tagesablaufs, der zeigt, wie viel Europa doch unseren Alltag beeinflusst. Zwei Studenten, die gerade per Anhalter durch Europa reisen und noch eine Mitfahrgelegenheit nach Süden gesucht haben. Eine Rentnerin, die vor Jahren nach Karlsruhe gezogen ist, damit ihre Kinder die Europaschule besuchen können und zu europäischen Bürgern zu werden – damit sich die Schrecken der beiden Weltkriege nicht mehr wiederholen müssen. Eine durch Deutschland tourende A-Capella-Gruppe, die eine multikulturelle Interpretation von „Freude Schöner Götterfunken“ singt. Ein kleines Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, die sagt „Ich bin für Europa, weil ich es gut finde, wenn Länder zusammenarbeiten.“ Applaus.
Es geht darum, zu teilen, warum Europa eine gute Idee ist, wenn in den Medien so häufig gezeigt wird, was nicht funktioniert, wo es schlecht läuft, wer dagegen ist und wie sich Volksparteien nach rechts bewegen, um Wähler nicht an rechte Parteien zu verlieren. Es geht auch um Diskussion, wie ein besseres Europa denn aussehen könnte und wie man vorgehen sollte, um das zu erreichen. Zumindest ist das das, was ich wahrgenommen habe. Es wird sogar über die Motive der eigenen Bewegung reflektiert – gerade bei den kritischen Punkten in den Zielen von Pulse of Europe gab es einiges an Getuschel. Aber eben konstruktives Getuschel.
Zum Abschluss der Veranstaltung wird eine Menschenkette gebildet, die sich ein gutes Stück auf den Schlossplatz erstreckt. Fotos werden gemacht, und erst herrscht Verwirrung, weil man das Bild erst (aber dann doch nicht) in Richtung Innenstadt mit Blick auf die Baukräne der U-Bahn machen wollte – der Subtext „Baustelle Europa“ hätte mir gefallen.
Dann löst sich die Veranstaltung so langsam auf, und ich gehe nach Hause. Kurz unterhalte ich mich noch mit einem Kommilitonen. Wir sind uns einig, dass man durchaus nochmal wiederkommen kann – dann vielleicht mit einem vorbereiteten Text für das offene Mikrofon.