Gleis 8

So ein Bahnhof ist ja schon ein paradoxer Ort, stelle ich fest, als ich die S-Bahn verlasse und auf den Bahnsteig trete. Ein Ort voller unterschiedlicher, widersprüchlicher Gefühle, voller Leben – insbesondere an diesem warmen Freitagabend im Spätsommer. Am gegenüberliegenden Gleis hält ein Intercity, Menschen steigen ein und aus.

Ich stelle mir vor, was sie gerade denken. Ein blondes Mädchen mit roter, weiß gepunkteter Tasche fällt aus der Tür einem Jungen in den Arm, der wahrscheinlich ihr Freund ist, der versucht cool zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie vermisst hat, und zumindest für die nächsten paar Tage nicht mehr weggehen lässt. Einen halben Wagen weiter ist die genau umgekehrte Szene. Er, Ende 20, mit Anzug und unauffälligem Rollkoffer, küsst seine Verlobte, flüstert ihr wahrscheinlich ins Ohr, dass er schon bald wieder zurück sein wird, und dreht sich in Richtung Tür.

Dort reicht ein älterer Mann, dessen weiße Haare unter seinem Hut hervorragen, gerade seiner Frau die Hand, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Vielleicht fahren sie übers Wochenende irgendwohin in den Urlaub, oder besuchen ihre Kinder in einer anderen Stadt. Die Frau lächelt ihn an und lässt seine Hand nicht mehr los, als sie den Zug betreten hat. Und ich lächle auch.

In Richtung des Vaters und der Mutter, deren Tochter gerade mit schwerem Rucksack bepackt ganz offensichtlich von einer halben Weltreise – mindestens von ein paar Wochen Abenteuern mit Freunden – zurückkommt, und die offensichtlich froh sind, dass es ihr gut geht. In Richtung der Gruppe Männer mittleren Alters im Wanderoutfit und mit Bierdosen in der Hand. Und auch aufmunternd in Richtung des Mannes, der zu einem Fenster winkt, gegen das von innen die Hand seines Freundes gepresst ist, der mit den Tränen ringt. Egal, wie lange die beiden getrennt sein werden, ich weiß, sie werden sich wieder sehen, irgendwann – und dann einander in die Arme fallen wie der Junge und das Mädchen mit der rot-weißen Tasche.

Und natürlich lächle ich auch dich an, als du mir am Bahnsteig entgegen kommst und sich dein linker Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hebt. Ich beschleunige meine Schritte für die verbleibenden Meter, die mich von deinen Armen trennen.

„Ich habe dich vermisst“, flüsterst du mir ins Ohr.

„Die ganze Zeit, seit dem Frühstück… Das muss richtig hart gewesen sein“, antworte ich augenzwinkernd, stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke dir einen Kuss in den Dreitagebart. Du hebst kurz eine Augenbraue, doch statt des ironisch-empörten „Hey“, das ich erwartet hatte, wandert deine Hand an meinem Rücken hoch bis in meine Haare, und du küsst mich auf den Mund. Ich drücke in der Umarmung noch ein letztes Mal fester zu, bevor ich dich langsam loslasse.

„Wie war dein Tag?“, frage ich, während meine Finger die deinen suchen.

„Gut“, antwortest du und drückst einmal kurz meine Hand.

„Was hältst du davon, wenn wir mal was Verrücktes machen“, sagst du und wirbelst mich herum. „Lass uns gemeinsam weglaufen. Jetzt, hier. Der IC fährt durch bis Stralsund, und das Meer hat die Farbe der Freiheit.“

Ich bin kurz verwirrt. „Weglaufen? Aber… wir haben doch…“

„Termine?“, unterbrichst du mich, „Die können warten. Das ist wahrscheinlich die letzte Chance vor dem Winter!“

„Aber wir können doch jetzt nicht einfach wegfahren. Ich bin gerade erst angekommen und will nur nach Hause, was essen und vielleicht noch einen Film gucken… Das war ein anstrengender Tag heute.“ Du hebst eine Augenbraue und hältst inne.

„Erinnerst du dich an die Zeiten, in denen du noch Lieder über wahre Liebe geschrieben hast?“, fragst du unerwartet.

„Kennst du dieses Gefühl, dass schon alle wirklich wichtigen Worte zu dem Thema gesagt wurden?“, entgegne ich und blicke in deine tiefen Augen.

Du schüttelst den Kopf: „Du solltest eine wissenschaftliche Abhandlung über die Metaphorik der Selbstzweifel schreiben, wenn du mich fragst.“

„Wie meinst du das denn jetzt?“

„Wir sind noch jung! Wir haben noch nicht alles gesehen. Noch nicht alles gesagt, noch nicht alles gemacht. Noch nicht alle Lieder geschrieben.“ Du drehst dich in Richtung des Intercitys, der immer noch am Gleis steht. „Das hier wird dein nächstes Lied, ich versprech’s dir.“ Du hältst mir deine Hand hin.

„Aber wir haben doch überhaupt keine Sachen gepackt für eine solche Reise“, schüttele ich den Kopf, muss aber auch ein bisschen lachen. „Was willst du machen, wenn wir angekommen sind? Im Bahnhof übernachten?“ Ich blicke in Richtung Ausgang. „Lass uns lieber nach Hause gehen.“

„Und dann werden wir alt und vergessen“, sagst du theatralisch, „unser einziges Lebenszeichen die ‚zuletzt online‘-Angabe bei WhatsApp, und auf unserem Grabstein wird stehen: ‚Hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben‘.“ Du malst den Umriss mit den Händen in die Luft, und ich muss lächeln. „Sei doch mal mutig“, forderst du mich heraus. „Tanz mit dem Leben!“

Ich habe immer zu mir selbst gesagt, derjenige, der mich zum Tanzen bringt, ist der richtige für mich. Und eigentlich habe ich gedacht, das hättest du bislang noch nicht geschafft.

Aber wir haben getanzt, strahlen deine Augen, weißt du nicht mehr? Walzer, im Regen, vor dem Kino. An den Film erinnere ich mich schon gar nicht mehr. Nur an die wirbelnden Lichter der Stadt.

Irgendwo knarzt eine Durchsage. Irgendwo ertönt eine Trillerpfeife. Eine Taube fliegt über die Gleise hinweg und landet auf einer verlassenen Sitzbank. Das Rauschen der Menge verblasst, und der Intercity ruht immer noch am Gleis.

„Du hattest doch mal diese Metapher in einer deiner Kurzgeschichten… ‚Wir haben den letzten Zug verpasst‘“, zitierst du.

„‚Aber er wäre eh in die falsche Richtung gefahren‘“, ergänze ich.

„Also ich sehe hier noch mindestens einen Zug, der heute noch fährt. Und in welche Richtung, ist doch eigentlich vollkommen egal.“

„Weil wir zusammen sein werden.“

Du lächelst. Dann machst du einen Schritt nach hinten, über die kleine Lücke zwischen Bahnsteig und Trittbrett, und steigst in den Zug ein.


Ebenfalls erschienen im Neologismus 17-01

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