Mittwochs

„Es ist ein unglaublich schöner Tag“, flüstert eine Stimme in mein Ohr. Ich drehe mich um. „Draußen ist es warm“, wird die Stimme lauter und beginnt an meinem Nachttisch zu wackeln. „Er ist auf dem Weg nach Hause mit der Bahn.“ Verwirrt öffne ich die Augen. „Schaut aus dem Fens…“ Ich schalte den Wecker aus und stehe schlaftrunken auf. Rollladen hoch. Kaffee. Ich drücke ein paar Knöpfe.

„Guten Abend, meine Damen und Herren“, sagt der Mann aus der Vergangenheit mit dem schiefen Gesicht und beginnt daherzuplappern, während ich frühstücke. „Die Populisten sind auf dem Vormarsch“, erklärt mir ein Anzug mit Krawatte. „Soso“, kommentiere ich. „Soso“, denkt der Mann aus der Vergangenheit und macht ein schiefes Gesicht. „Wir sollten alle noch viel mehr Angst haben“, fährt der Anzug fort und friert plötzlich ein. „Behalt den Gedanken im Hinterkopf“, sage ich und gehe duschen.

Die Geister der Vergangenheit steigen aus den Dampfschwaden auf. Ein Hund kommt angelaufen. „Das hier ist ein Waldweg, kein Spielplatz“, echot es zornig. Ein Blatt Papier liegt auf dem Boden. „Nennen Sie die acht Vs horizontaler Prozessoptimierung“, echot es streng. Jemand, den ich mal kannte, blickt mich vorwurfsvoll an. „Ich bin für dich doch selbstverständlich geworden“, echot es enttäuscht. Und dann bist da noch Du, krittisch wie immer. „Da ist ein Rechtschreibfehler im letzten Satz“, echot es zynisch.

Ein Müllhaufen vor mir mitten auf dem Bürgersteig versperrt mir den Weg. „Dafür habe ich jetzt keine Zeit.“ Heute ist wieder Fleddertag bei mir in der Straße. Ein Kaninchenstall, frisch gestrichen. Ein Wandspiegel, gebrochen. Fotorahmen, leer. Babyschuhe, ungetragen. Und morgen, wenn die Abfuhr kommt, bleiben nur Reste von Leben und Splitter von Träumen verstreut auf dem Boden liegen, um von Passanten in die Erde getreten zu werden. Über mir strahlt das tiefste Blau des Himmels.

Diese Woche: Hawaii-Woche! „Piep piep piep“, macht die Kasse, als sie den zu zahlenden Betrag für das Mittagessen von meinem Studentenausweis abgebucht hat. „Wir ha’m uns alle lieb“, ergänze ich hoffentlich nicht laut halb in mich hinein, halb zur Kassiererin.

Ein guter Freund setzt sich zu mir. „Bist du eigentlich jetzt ein Misanthrop geworden?“, fragt er mich. „Inwiefern?“, frage ich zurück, und schütte mir Jod, Fluor und Folsäure über mein Essen. „Sag mal, wie kannst du dir das immer ohne erst zu probieren drüberkippen?“, fragt er, und salzt sein Essen ebenfalls, bevor er den ersten Bissen nimmt. „Aber zum Thema. Überleg̣‘ doch mal: In ‚Montage‘ standen noch Menschen im Mittelpunkt der Geschichte. Dein Textstil hat sogar dafür gesorgt, dass die medialen Brüche wie Telefon oder Wahlplakat überbrückt werden. Gut, das mit dem Wahlplakat machst du in ‚Dienstag‘ immer noch, aber die Menschen… Du blendest komplett die echten Menschen aus.“ Er schneidet durch eine Scheibe Ananas aus der Dose, drei Späne Reibekäse und zwei Zentimeter Panade, und führt einen Querschnitt zu seinem Mund. „Also eigentlich“, versuche ich meine Gedanken zurück auf das Thema der Geschichte zu richten, „war das nicht meine Absi…“

„Halt!“, unterbricht er mich. „Wenn der Text geschrieben ist, hat der Autor bei der Interpretation nicht mehr mitzureden.“

Der Cursor blinkt im Textfeld bei Wort 512. Es ist eine Kurzgeschichte. „Erinnerst du dich noch daran, dass du mal Gedichte über wahre Liebe geschrieben hast?“, fragt mich das lyrische Ich. „Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass alle wichtigen Worte schon gesagt wurden?“, entgegne ich. Das lyrische Ich blickt auf den Bahnhof. Ich blicke auf den Bildschirm. „Musst du eigentlich die Geschichten erzählen, oder erzählen die Geschichten dich?“, fragt es. „Der Trick ist, nie zu wissen, wo die Geschichte endet und die Realität anfängt.“ Das lyrische Ich legt mir die Hand auf die Schulter. „Weißt du, manchmal wäre ich gerne auf Wolke 7, aber dann stehe ich doch nur hier an Gleis 8…“

Ich warte alleine am Bahnsteig. Die Lautsprecher knarzen, aber niemand sagt etwas durch.

„Wo soll das alles nur hinführen?“, frage ich.

„Wörth Bahnhof“, antwortet die Anzeigetafel.

Der letzte Zug fährt ab.


Ebenfalls erschienen im Neologismus 17-09

Mehr lesen