Pulse of Europe

Ein Text für das offene Mikrofon

Eigentlich bin ich ja nicht der Typ, der sich bei so einer Veranstaltung mit einer klaren Meinung vor die Menge stellt. Häufig fehlt mir diese Meinung einfach, weil ich zu vielen Dingen skeptisch gegenüberstehe, Pro und Contra sehe, gerade, wenn ich sie für grundsätzlich gut halte.

Für mich ist Europa nicht das essentielle Friedensprojekt, ohne das hier jetzt Krieg ausbrechen würde. Da bin ich vielleicht in der falschen Zeit für aufgewachsen. Ich bin auch nicht mit Interrail durch Europa gereist, oder habe bei Erasmus mitgemacht. Und ich bin niemand, der laut ruft: „Wir brauchen die EU, um auf dem Weltmarkt nicht unterzugehen und wirtschaftliche Macht auszuüben.“ Das mag zwar stimmen, ist aber aus mehreren Gründen1 ein blödes Argument, nicht nur, weil man damit niemanden wirklich begeistert – „Wirtschaftliche Macht, Yay!“

Ich bin eher jemand, der sich die 10 Grundthesen dieser Veranstaltung im Internet nochmal genau anschaut und sich fragt: Wofür stehen wir eigentlich hier? Für Europa, den Kontinent? Für die EU, die Institution? Den Euro, Schengen, …? Wahrscheinlich gibt es aus vielen Gründen2 keine Antwort auf diese Frage. Die 10 Grundthesen sprechen in ihren Überschriften immer von Europa, wahrscheinlich, weil das schön konsensfähig ist, streuen im Fließtext dann aber schön die EU ein. Und ich sitze dann da und frage mich: „Ist ja clever, aber muss ich wirklich so manipuliert werden?“

Trotzdem bin ich für die Sache absolut zu haben. Europa ist gut und wichtig. Vor zwei Wochen, hat eine der jüngeren Rednerinnen hier gesagt: „Meine ältere Schwester ist gerade bei ihrer Austauschschülerin in Frankreich. Das finde ich cool, das will ich auch machen, wenn ich alt genug bin.“ Und diese Aussage finde ich unglaublich wertvoll, weil…

Menschen haben Vorurteile. Immer. Wahrscheinlich aus gutem evolutionsbiologischem Grund. Da sitzt mir jemand in der Bahn gegenüber, der fremd und komisch aussieht – da bin ich erst mal vorsichtig. Dann wirkt der auch noch irgendwie islamistisch – da haben mir die Nachrichten gesagt, das sind die schlimmsten. Vernunftgemäß weiß ich, das ist ein Vorurteil, das stimmt wahrscheinlich nicht, die meisten sind voll okay. Trotzdem handle ich nicht so.

Würde ich aber mehr Menschen aus dieser Gruppe kennen – ihre Kultur, ihre Gebräuche –, dann wäre diese Einsicht jedoch auch emotionaler Art, und nicht mehr nur vernunftgemäß. Dann fallen Vorurteile, ganz radikal. Und das hat die EU (als Institution) für Europa (als Kontinent) mit verschiedensten Maßnahmen geschafft – was solche Aussagen wie die der jungen Rednerin zeigen.

Und das finde ich furchtbar wichtig und auf jeden Fall schützenswert.


  1. Wirtschaftliche Macht für wen denn? Deutschland? Dass das nicht vollumfänglich positiv ist, zeigen die Nachrichten↩︎

  2. Legt man sich fest, kriegt man keine Demonstration auf die Beine. Außerdem sollte sich jeder seine Meinung selbst bilden, durchaus auch auf der Veranstaltung selbst, aber sie sollte nicht von oben vorgegeben werden. ↩︎


Ebenfalls erschienen im Neologismus 17-04

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