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The Circle

George Orwells Alptraum

The Circle, beziehungsweise im Deutschen Der Circle ist ein 2013 erschienener, dystopischer Roman des amerikanischen Schriftstellers Dave Eggers. Inhaltliches Zentrum ist der titelgebende Internet-Konzern The Circle, der als Kombination von Google, Facebook und weiteren das Netz dominiert, umfassende Transparenz fordert und somit Privatsphäre immer weiter eliminiert.

Die Handlung folgt der Protagonistin Mae Holland, die eine Stelle im Bereich Customer Experience annimmt, im Laufe des Romans innerhalb des Unternehmens weiter aufsteigt und immer tiefer in die umfassende Transparenz hineingezogen wird. Sie wird mit starkem sozialen Druck dazu gezwungen, firmenintern und -extern im sozialen Netzwerk alles über sich selbst preiszugeben. Als Trendsetterin bei Produktumfragen teilzunehmen und ihrerseits wiederum Produkte an ihre Follower zu empfehlen. Alles ist mess- und vergleichbar, von der Zufriedenheit ihrer Kunden über Aktivität im sozialen Netzwerk bis hin zum Umsatz, den sie mit ihren Empfehlungen generiert hat.

Begleitet wird sie dabei von ihrer guten Freundin Annie, die ein relativ hohes Tier im Circle ist und ihr den Job ermöglicht hat. Sie lernt einen Kollegen Francis kennen, mit dem sich so eine Art Beziehung entwickelt, sowie den mysteriösen Kalden, zu dem sie sich hingezogen fühlt, der aber in den Such-Tools des Unternehmens nicht aufzufinden ist. Maes Vater leidet an multipler Sklerose, kann aber in Maes ausgezeichnete Krankenversicherung aufgenommen werden – wenn sie die neue Kameratechnologie „SeeChange“, kleine öffentlich ans Internet angebundene Überwachungskameras zur Verfolgung seines Gesundheitszustands überall im Haus installieren. Einzig Maes Exfreund Mercer ist die, durch den Circle getriebene, technologische Entwicklung weg von Privatsphäre zu immer mehr Transparenz zu viel.

Mae hingegen rutscht immer tiefer in die Denkstrukturen ihres Arbeitgebers hinein und wird irgendwann komplett gläsern, indem sie stets eine SeeChange-Kamera bei sich trägt und ihr komplettes Leben live an ihre wachsende Zuschauerzahl überträgt – durchaus als PR-Element des Circle. Auch Politiker geben sich zunehmend diesem Trend hin, denn: Transparenz ist ja gut, wir als Gesellschaft haben ein Recht darauf, zu wissen, was sie tun. Es ist besser für alle. Und so zieht sich die Handlung weiter, hin auf das Endziel: Die „Completion“ des Circles.

Ich hatte beim Lesen ein sehr unangenehmes Gefühl, das über die (vom Autor natürlich intentionierte) Ablehnung der vorgestellten Technologien hinausgeht. Irgendwas passt nicht, ist nicht stimmig, und ich stimme dem Inhalt nicht zu. Aber ich kann auch den Finger nicht genau drauflegen, was genau mich stört. So krass manche Sachen im Roman manchmal sind, so weit weg von der Realität ist das nicht. Einige der gerade am Anfang beschriebenen Praktiken sind durchaus Silicon-Valley-tauglich.

Was stört mich also? Meine erste These war tatsächlich: Meine unergründbare Ablehnung sagt mir, das stimmt, was gesagt wird, ich dem aber unbewusst nicht zustimmen will. Dass ich wegschauen möchte, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, und dass mir genau das beim Lesen des Buchs bewusst wird.

Wenn ich aber tiefer nachdenke, ist es mehr als das. Der Roman ist nämlich schlicht plump. Und diese Plumpheit geht weit darüber hinaus, dass der Autor wohl denkt, der Leser brauche regelmäßige Sexszenen, um nicht das Interesse an der Handlung zu verlieren.

Das Buch nimmt manchmal direkt zu unserer heutigen Welt Bezug. Der Circle hat Facebook und Google geschluckt. Ich sehe, wo das an ein, zwei Stellen eine Erklärung für kleine inhaltliche Elemente bietet. Aber es ist nicht relevant für den Plot und wirkt irgendwie reingequetscht, um die inhaltliche Bedrohung weniger abstrakt zu machen. Dadurch verliert die Handlung aber ihre Zeitlosigkeit – funktioniert nur hier und jetzt, wo Facebook und Google stark sind.

Außerdem verwendet der Roman sehr offensichtliche Handlungselemente. Ah, ihr Ex, ist gegen Technik. Oh, er kümmert sich um ihre Familie; zieht sie auf seine Seite. Oh nein, ein mysteriöser Typ, zu dem sie sich hingezogen fühlt – das ist ganz sicher nicht der mysteriöse Gründer der Firma, der von seinen beiden Mit-Geschäftsführern unterdrückt wird und sich deshalb nur sehr selten und sehr indirekt meldet.

Er verwendet offensichtliche Metaphern: Uh, sie fährt Kanu in der Bucht, ganz alleine, von Technik losgelöst, als Ankerpunkt in der wirklichen Welt. Ah, eine einsame und verlassene Insel – sie erkundet sich selbst. Oh, sie kriegt immer mehr Bildschirme an ihrem Arbeitsplatz – ein Symbol für ihre Überforderung. Oh, die drei Tiere aus der Tiefsee, einem rauen Ort, der garantiert keine Parallele zu unserer Gesellschaft sein soll.

Und dann werden diese Metaphern teilweise sogar noch erklärt: Gegen Ende des Romans steht eine Metapher mit drei Tieren, die im Zuge einer Forschungsmission der drei Fimenchefs, der „weisen Männer“ aus der Tiefsee gebracht wurden: ein Seepferdchen, ein Oktopus und ein Hai. Es ist absolut offensichtlich, dass diese drei Tiere die Firmenchefs symbolisieren. Dann starrt der Mann, für den der Hai Metapher ist, den Hai lange und intensiv an. Dann erklärt der Mann, für den das Seepferdchen Metapher ist, eins zu eins die Metapher für die Protagonistin, und dass der Typ, für den der Hai Metapher ist, wie ein Hai ist. Ich bin nicht blöd!

Aber das wichtigste Problem ist: Die Protagonistin selbst ist unglaubwürdig.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, gute Protagonisten zu schaffen. Eine Möglichkeit ist, dass sich der Leser mit ihm bzw. ihr identifizieren kann. Das geht in der ersten Hälfte des Buches auch so halbwegs. Die Protagonistin stellt sich gegen das totalitäre Überwachungs- bzw. Transparenzsystem. Später fällt diese Sympathie dann jedoch komplett auseinander, wenn sie sich in Teil 2 nicht mehr gegen die Überwachung sträubt, sondern aktiv mitmacht und auch andere darin hereinzieht.

Es gibt noch andere Möglichkeiten, einen Protagonisten interessant zu machen, wenn man sich nicht hundertprozentig mit ihm identifizieren kann. Ich denke da an Frank Underwood aus House of Cards. Aber dann muss er wenigstens glaubwürdig sein und Tiefe haben.

Hier ist das nicht der Fall. Ihre Motivation, nicht einfach aufzuhören, wenn ihr alles ungeheuer wird und teilweise über den Kopf wächst, ist ziemlich schwach. Anfangs ist es nur der Wille, ihre beste Freundin nicht enttäuschen zu wollen. Erst wesentlich später kommt dann ihr Vater dazu, der über den Circle die Krankenversicherung bekommt. Generell ist sie sehr passiv und von anderen gelenkt – was passt, weil sie ja in den Circle „hineingesogen“ werden soll. Aber dann sollen wir zeitgleich auch glauben, dass sie eine wirklich schlaue Person ist, die echt (für die Strategie des Circles) gute Ideen hat. Letztendlich fehlt ihr auch einfach Charakterentwicklung, wenn man von dem drastischen, und absolut unerwarteten und unmotivierten Charakter-Bruch zwischen Teil 1 und Teil 2 des Buches absieht.

Generell hat keiner der Charaktere auch nur irgendeine Entwicklung. Keiner. Man könnte höchstens behaupten, Maes Freundin Annie habe sie, weil sie unter der Last ihrer Teilnahme an einem weiteren Transparenz-Testprogramm des Circles zusammenbricht. Aber eigentlich war die Teilnahme an dem Programm selbst schon unglaubwürdig für ihren Charakter, waren ihre persönlichen Ansichten zum Thema Privatsphäre zuvor absolut nicht Thema; nur ihre hohe Position innerhalb des Circles.

1984

The Cricle schickt sich an, George Orwells 1984 des 21. Jahrhunderts zu werden. Orwells ebenfalls dystopischem Roman handelt vom Protagonisten Winston Smith, der in einem totalitären Überwachungsstaat lebt und mit diesem in Konflikt gerät, weil er sich seine Privatsphäre sichern möchte und versucht, mehr über die reale, nicht von der Staatspartei mittels Propaganda veränderten Vergangenheit zu erfahren.

Natürlich ist die Handlung in The Circle eine andere, und die Perspektive ist eben nicht die von staatlicher Unterdrückung, sondern privatwirtschaftlicher Freiheit und Selbstverwirklichung, doch die Parallelen werden im Laufe des Romans immer wieder deutlich. Ganz besonders betrifft das drei Leitsprüche, die Protagonistin Mea für den Circle verkündet:

Secrets are Lies.
Sharing is Caring.
Privacy is Theft.

Der Vergleich zu den drei Staats-Slogans aus 1984 zwingt sich da quasi auf:

War is Peace.
Freedom is Slavery.
Ignorance is Strength.

Und ja, inhaltlich ist The Circle wahrscheinlich wirklich das neue 1984. Was beschrieben wird, ist wahrscheinlich übertrieben, aber erschreckend wahr. Und vor allem näher, als es bei Orwell war.

Aber Orwell gestaltet den Protagonisten besser. Wir lernen ihn nicht als jemanden kennen, der sich immer tiefer im System verfängt und für uns unverständlich handelt. Wir lernen ihn als Teil des Systems kennen, und sympathisieren mit dem Leben, das er in diesem aufgebaut hat. Ein System, das wir, obwohl es nicht explizit gesagt wird, als ungerecht empfinden. Und dann lehnt er sich dagegen auf, tut also, was für uns als Leser glaubwürdig ist.

Auch Winston scheitert dabei. 1984 hat genauso wenig ein Happy End wie The Circle. Hier ist der Plot-Twist am Ende aber erschütternd, weil wir involviert sind und ehrlich mit dem Protagonisten mitfühlen. Bei The Circle war es mir persönlich egal, wie es jetzt ausgeht, weil mir einfach der Bezug zur Hauptperson gefehlt hat. Man hätte mir das komplett gegensätzliche Ende auf den letzten drei Seiten präsentieren können; jo, wär‘ halt so gewesen. Es war auch kein Moment nach dem Motto „Oh Scheiße, ich hätte es kommen sehen können; das ist so perfide, was der Roman hier tut“, wie man das bei 1984 hat. Nein, es ist einfach ein Ende, weil das Buch irgendwie bei um die 500 Seiten enden musste, oder dem Autor schlicht die Handlung ausgegangen ist.

Vielleicht bin ich zu hart. Ja, die inhaltliche Prämisse gibt es her, dass der Roman das 1984 des 21. Jahrhunderts wird. Aber wenn die nötigen Änderungen vorgenommen worden wären, wäre es dann nicht vielleicht ein schlimmer Abklatsch von Orwells Klassiker geworden? Von daher, touché, da wurde mal was anderes probiert.

Und ich will weiß Gott nicht sagen, dass das Buch nicht spannend wäre! Eines der prominenten Zitate auf dem englischen Taschenbuchcover aus einem Review der Times nennt den Roman „unputdownable“. Und da muss ich irgendwie zustimmen, denn was inhaltlich passiert, ist tatsächlich spannend. Man wartet auf jeder Seite, welche technologische Neuerung denn jetzt mit einem Heilsversprechen den Menschen noch gläserner macht. Dennoch sollte man das auch auf eine handlungstechnisch spannendere Weise hinkriegen. Um ein Beispiel zu machen, springen wir zur Fernseh- beziehungsweise Netflix-Serie Black Mirror.

Black Mirror

Black Mirror ist eine Science-Fiction-Serie des britischen Autors und Produzenten Charlie Brooker, die sich mit den Auswirkungen von Technik auf die Gesellschaft befasst. Die jeweils einstündigen Episoden hängen dabei allerdings nicht zusammen und stehen für sich alleine in einem jeweils eigenständigen Universum und erzählen von „der Art, wie wir alle leben und wir innerhalb von 10 Minuten leben könnten, wenn wir ungeschickt wären“, wie es Brooker ausdrückt.

Prinzip der einzelnen Folgen ist es, ein abstraktes, philosophisches Problem aufzugreifen, zum Beispiel „Wem gehören gemeinsame Erinnerungen nach einer gescheiterten Beziehung?“. Dem wird eine technologische Prämisse hinzugefügt, eine neue Technologie, die das Problem ganz konkret und real macht. Um im Beispiel zu bleiben: Implantate, die alles aufzeichnen, was man sieht und mit denen man das privat oder öffentlich wiedergeben kann. Dazu kommt dann eine Handlung, die das Geschehen als bedeutsames gesellschaftliches Problem aufbaut, bei dem Technik nur Nebensache ist und eigentlich nur die inhärente persönliche oder gesellschaftliche Entgleisung ermöglicht, die dann in voller Konsequenz ausgespielt wird.

Bei all dem ist wichtig, dass die Technologie, die ja nur die Rolle des Enablers spielt, der das Problem greifbar macht, schön in die Handlung eingebettet ist. The Circle hat es da relativ einfach: Protagonistin Mae ist neu im Unternehmen und wird in alles eingeführt. Jede Technologie und deren Nutzung muss ihr (und damit dem Leser) erklärt werden. Außerdem ist das Ganze ein Roman in Textform, da kann der Erzähler notfalls einfach ein paar Hintergrundinformationen einfach als Absatz einfügen. Black Mirror als Fernsehserie hat es da schwerer – aber sie meistert die Gratwanderung zwischen befremdlicher Exposition im Dialog zwischen zwei Charakteren, die ganz genau wissen, was da gerade vor sich geht und es eigentlich nicht nochmal erklären müssten, und einem verwirrten Zuschauer, der gar nicht weiß, was gerade um ihn herum passiert.

Ich gebe zu: Black Mirror ist nicht immer perfekt. Viele Folgen brauchen, das finde ich persönlich einfach unelegant, mehrere voneinander unabhängige technologische Prämissen, um die Handlung zu ermöglichen. Manche Folgen sind vorhersehbar. Und manche Folgen wirken inhaltlich nicht ganz konsistent.

Aber dafür besteht diese Serie aus den Momenten, die in The Circle fehlen. „Oh Scheiße, ich hätte es kommen sehen können; das ist so perfide, was diese Folge hier tut“. Momente, in denen die Handlungselemente wie Dominosteine umfallen, in denen alle Charaktere inhaltlich perfekt motiviert handeln, aber so, wie man es nicht vorhergesehen hat. Ich glaube, das ist die Art von Einsicht, von der ich in meinem Artikel „Was ist gute Literatur?“ spreche.

Die Art, die mir in The Circle gefehlt hat.


Titelbild: Trey Ratcliff (CC BY-NC-SA 2.0)
Ebenfalls erschienen im Neologismus 17-04

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